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Zusammenfassung

 

Mittelalterliche Philosophie

 

 

Kap. 1: Boethius als Vorläufer der Scholastik

 

A. Der Vermittler zwischen spätantikem und scholastischem Denken

 

Boethius ist nicht so sehr als origineller Denker denn als Vermittler zwischen spätan­ti­ker und scho­­la­stischer Geisteswelt ausgezeichnet, in dem doppelten Sinn, daß er antikes Kul­tur­gut sei­ner Zeit und damit auch späteren Zeiten vermittelte und daß er in der Mitte zwischen spät­an­ti­ken römischen und (früh)scholastischen Eigentümlichkeiten steht. Sein Lebenslauf ist noch eher römisch geprägt, indem er sich noch nicht einem rein theoretisch-kontemplativen Le­ben widmete, sondern einflußreiche politische Ämter ausübte. Die Vermittlertätigkeit innerhalb seines Werkes besteht zunächst einmal darin, daß er die philosophischen Klassiker (Platon, Ari­stoteles) vollständig ins Lateinische übersetzen und kommentieren wollte, wenngleich er - wegen eines (kirchen)politischen Verdachts hingerichtet - nur einen kleinen Teil verwirklichen konnte. Hierbei machte er aus dem Lateinischen allererst eine zum stringent logisch argumen­tie­­­­renden und terminologisch exakt unterscheidenden Philosophieren brauchbare Sprache. Auch wenn man nicht mit dem linguistischen Relativismus glaubt, in jeder Sprache artikuliere sich letztlich unübersetzbar die Weltsicht des jeweiligen Volkes, so ist doch eigentlich unbe­streitbar, daß bestimmte Gedanken nur in bestimmten Sprachen entdeckt werden konnten, auch wenn sie, einmal gefunden, unabhängig von dieser Sprache gültig bleiben und daher prinzipiell in jede Sprache übersetzbar sind. Die abendländische Philosophie hätte so sicher nicht in glei­cher Weise wie im Griechischen in der Sprache der eher lebenspraktischen und wenig speku­la­tiven Römer entwickelt werden können. So mußte Boethius das Lateinische erst u. a. durch Wort­­neubildungen bedeutsam erweitern, ehe es zur Sprache der abendländischen Wissen­­­schaft werden konnte. - Bei seiner Vermittlung hat Boethius auch geholfen, die kanonischen The­sen der scholastischen Philosophie festzulegen. Wie bereits der Name sagt, handelt es sich hier um eine schulmäßig betriebene Philosophie, wo nicht bloß die äußere Orga­nisation, sondern auch die zu behandelnden Themen verbindlich vorgegeben sind, so daß es weniger auf geniale Neu­ent­­deckungen des einzelnen ankam, als vielmehr darauf, tiefer in die bereits gefundenen Wahr­heiten einzudringen. Ähnlich kam es bereits in der Spätantike den lebenspraktischen Römern und so auch Boethius nicht so sehr darauf an, in theoretischer Neu­gier ganz neue Fragen zu erschließen, als vielmehr das bereits gefundene Wissen zu organisie­ren, d.h. enzyklopädisch zu umfassen und systematisch gegliedert im Hinblick auf eine didak­tische Vermittlung aufzube­rei­ten. Deshalb war Boethius um den propädeutischen Wissens­kanon der septem artes liberales be­müht. Auch in den Harmonisierungsbestrebungen steht Bo­ethius zwischen dem antiken Neu­pla­tonismus, der die Gemeinsamkeiten von Platon und Ari­sto­teles für gewichtiger als ihre Unter­schiede ansah und den Scholastikern. Da diese die oft widerstreitenden Autoritäten nicht ein­fach verwerfen, aber gemäß dem aristotelischen Wider­spruchspinzip einen Gegensatz auch nicht hinnehmen oder in einer höheren Gegensatzeinheit (à la Hegel) aufheben konnten, diffe­ren­zierten sie Hinsichten und wiesen den Auffassungen, die einander unbedingt genommen aus­schließen, einen jeweils beschränkten Geltungsbereich zu, wo sie widerspruchsfrei nebenein­ander bestehen können. Die scholastische Disputationstechnik mit ihren subtilen Begriffsunter­schei­dungen hat Boethius teilweise schon vorweggenommen. Mit der Anwendung eines hoch­entwickelten, stringenten logischen Argumentierens auf Fragen auch der geoffenbarten Theolo­gie (Trinität) bereitete Boethius die scholastische Versöhnung von (logisch argumentierender) Vernunft und Glauben vor. Seine Aufgliederung der Philoso­phie in Theorie und Praxis unter­schlägt Aristoteles’ Unterscheidung des sittlichen Handelns vom Hervorbringen eines äußeren Pro­dukts. Die Aufgliederung der theoretischen Gegenstän­de in rein Geistiges, körpergebun­de­nes Geistiges und Naturdinge zeigt die typisch neuplatonische Tendenz zu Hierarchien und einen zunehmenden Abfall vom geistigen Ursprung. Im Sinne der Disputationstechnik erörtert er nach zwei Seiten, ob die Logik kraft eines eigenen Gegenstandes gleichberechtigt neben Theorie und Praxis treten könne. Sie kann, wenn man unter Gegenstand bloß irgendeinen Inhalt versteht. Sie kann nicht, wenn man im Gegenstand den Zielbezug denkt. Denn das Argu­men­­tieren ist kein autonomes Ziel, sondern dient Theorie und Praxis.

 

 

B. Themen in den Kommentaren zu Isagoge, Kategorien und Perihermeneios

 

Während die Kategorien oder Prädikamente Begriffe von Einzelnen sind, sind die Prädikabilen Begriffe von Begriffen oder (wie Boethius in einem nominalistischen Ansatz sagt) Namen von Namen. Denn Gattung, Art, spezifische Differenz, Proprium und Akzidens lassen sich nur ihrer­­seits von Begriffen erster Stufe wie Lebewesen, Mensch, vernunftbegabt, lachfähig und weiß aussagen. Porphyrios wirft gerade bezüglich dieser Universalien höherer Ordnung drei zusammenhängende Fragen auf: 1.) Existieren sie außerhalb des Bewußtseins oder sind sie bloße Gedankenprodukte? 2.) Wenn sie existieren, existieren sie dann als Körper oder unkör­per­lich? 3.) Wenn sie unkörperlich sind, existieren sie dann als etwas Selbständiges (Abge­grenz­tes) oder nur in den Körperdingen? Auch Boethius legt sich nicht definitiv auf eine Lösung fest, entfaltet aber den platonischen und vor allem aristotelischen Ansatz ausführlich: Da das Allgemeine, das mehreren gemeinsam ist, und das Einzelne sich wechselseitig aus­schlie­ßen, als ein Wirkliches im Vollsinn aber nur Einzelne in Frage kommen, sind die Universalien als solche nur gedankliche Konstrukte. Sie haben aber eine reale Grundlage in der Wesens­gleichheit (similitudo substantialis) numerisch verschiedener Einzelner (bei den Arten) oder der Arten (bei den Gattungen). Gegenüber der bloß denkerisch erfaßbaren Ähnlichkeit zwischen den Arten (als Gedankenprodukten) ist die Ähnlichkeit zwischen Einzelnen wahrnehmbar, also unmittelbar in der körperlichen Wirklichkeit gegeben, so daß die Arten in den Einzeldingen existieren. Boethius hält sich indes nicht völlig von einer platonischen Verdinglichung (Hypo­stasierung) des Allgemeinen frei, indem er die allgemeine Natur als ein körperliches Ding inner­halb des wahrnehmbaren konkreten Einzeldings auffaßt. Das Abstrahieren des Allgemei­nen ist hiernach keine Konstitutionsleistung des Geistes, sondern bedeutet bloß, daß man ein im Einzel­ding bereits vorgegebenes Allgemeines losgelöst von ihm betrachtet. - Aristoteles nimmt int. 1 an, die Ausdrücke unserer konkreten Sprache beziehen sich immer nur vermittelt durch mentale Zustände, die für alle Menschen dieselben sind, auf die Wirklichkeit. Bei Boethius wird die mentale Zwischenschicht in bildhaftes Vorstellen und wahrheitsfähige Gedanken differen­ziert. Auch wenn die philosophischen Unterscheidungen durch Beobachtung der konkreten Sprachen gewonnen sind, so intendieren sie doch eine Aufgliederung in der uni­versal gültigen Men­talsprache. Da diese mit der abgebildeten Wirklichkeit strukturidentisch ist, entschärft sich der Universalienstreit: geistige Konstruktion oder Wirkliches. So beansprucht die am Griechi­schen oder Lateinischen gewonnene Unterscheidung zweier Verwendungen von ‘ist’ sicher universale Gültigkeit. Einfach (oder absolut) gebraucht behauptet ‘ist’ die Existenz des Sub­jekts. Als Kopula drückt ‘ist’ aus, eine allgemeine Eigenschaft wie Menschsein inhärie­re ihrem Subjekt oder dieses partizipiere an ihr. (Eine inhärierende Eigenschaft braucht nicht selbständig zu sein. Hingegen kann man nur an etwas Selbständigem teilhaben (Platonismus).) Die heute noch unterschiedene Verwendung von ‘ist’ für die Identität kann als Grenzfall eines vollständig bestimmenden Prädikats gelten. - Das logisch-metaphysische Problem, ob Aus­sagen über kon­tin­gente Zukunftsereignisse gemäß der Forderung des Bivalenzprinzips einen der beiden Wahr­heitswerte haben, wird bei Boethius zum Problem des Verhältnisses von göttlichem Voraus­wissen und menschlicher Freiheit. Das (voraus) Gewußte muß wahr sein; Voraussetzung für die Wahrheit einer Aussage ist offenbar, daß das entsprechende Geschehen unfehlbar determi­niert ist. Eine lückenlos festgelegte Zukunft ermöglicht keine Entscheidungsfreiheit mehr. Boe­thius versucht dies durch die These zu versöhnen, Zukunftsaussagen seien nicht definitiv wahr oder falsch. Dies kann recht sinnvoll meinen: Entsprechend der realen Entwicklungstendenz hat eine Zukunftsaussage bereits einen Wahrheitswert, der aber noch nicht endgültig ist, da der Ein­tritt des Ereignisses noch vereitelt werden könnte.

 

 

C. Die ontologischen Differenzierungen der theologischen Schriften

 

In den theologischen Schriften differenziert Boethius vier Stufen des Seins, um dadurch Fragen der Trinität besser beschreiben zu können. Hierbei ist die jeweils voraufliegende Stufe in der nächst­höheren eingeschlossen. Am allgemeinsten ist Sein (esse, ªÊIÇ ) und Seiendheit (essen­tia, Înd). Essentia (nicht Wesen) kommt allem zu, das in irgendeiner Weise gegeben ist, auch den unselbständigen Universalien. Subsistieren und Subsistenz (ÎnÇû¨CÇ - ÎndtnÇÑ) meint das selbständige Bestehen, daß etwas nicht an einem von ihm verschiedenen Subjekt vor­kommt. Davon unterscheidet Boethius substare und substania (ÓqdnOnCÇ - ìLínOnÇÑ), daß etwas seinerseits Träger von unselbständigen Eigenschaften ist. Durch diese Differenzie­rung von Subsistenz und Substanz, die Boethius selbst nicht konsequent durchhält, versucht er Gottes Sein zu kennzeichnen: Obgleich Gott im höchsten Grade selbständig besteht und keines anderen bedarf, ist er dennoch im Unterschied zu den Dingen der Körperwelt keine Substanz, kein individueller Träger von Eigenschaften, die von ihm als ihrem Subjekt verschieden sind. Als Träger von Eigenschaften kommt primär nur die bestimmbare Materie in Frage, die Form nur indirekt, sofern sie (wie z.B. das Menschsein) in Materie realisiert ist. So ist sie aber bloß ein Abbild der Form, nicht wie Gott die reine, materielose Form selbst. Weil Gott uneinge­schränkt subsistiert und keines anderen bedarf, auch nicht einer von ihm verschiedenen materi­ellen Komponente, kann er nicht Träger von Akzidenzien, also Substanz sein. Gerade bei der Trinität, zu deren Charakteristik diese Gliederung entwickelt wurde, führt sie aber zu Schwie­rigkeiten. Denn die Person (príntLÎI) (4. Seinsstufe) definiert Boethius als eine individuelle Substanz von einer vernünftigen Natur. Gemäß der dogmatischen Formel der Trinitätslehre sind in Gott drei Personen, aber eine Essenz. Boethius muß bei seiner Personendefinition ent­ge­gen dem kirchlichen Sprachgebrauch in Gott drei Substanzen (Hypostasen) annehmen. Und wenn er betont, das Sein (essentia) und das selbständige Bestehen (subsistentia) bei Gott sei nur eines, so bedeutet dies sogar einen inneren Widerstreit. Denn was ein substantieller Trä­ger von Eigenschaften sein soll, muß a forteriori substistieren, darf nicht seinerseits einesTrä­gers bedürfen, so daß in Gott drei Subsistierende sind. In de hebdomadibus versucht er streng wissenschaftlich aus neun Axiomen, die freilich nur dem evident sind, der sich bereits mit onto­lo­­gischen Grundbegriffen befaßt hat, eine neuplatonische Metaphysik zu entwickeln. Der onto­logische Grundgegensatz von (absolutem) Sein (ipsum esse) und Seiendem (id quod est) wird durch Teilhabe (participatio) überbrückt. Unklar bleibt, wie das allumfassende und daher unbe­stimmte Sein eine Person sein kann, die etwas Bestimmtes (z.B. daß die Welt ist) will. Das Sein selbst ist noch nicht. Dies bedeutet keinen Mangel, sondern entspringt der Überfülle, daß das Sein selbst jeden positiven Gehalt in sich befaßt und daher kein bestimmtes eingeschränktes Seiendes ist.

 

 

D. Die Consolatio Philosophiae

 

Die Consolatio enthält eine Quintessenz von Boethius’ Werk. In der kunstvollen sprachlichen Gestaltung (Wechsel von Prosa und Poesie) läßt er noch einmal das antike Stilideal lebendig werden. Auch wenn er inhaltlich vom Neuplatonismus geprägt ist, ist er formal eher von Platon und Aristoteles bestimmt, indem er das vom Neuplatonismus vernachlässigte stringente logi­sche Argumentieren im Dialog nach strengen Dialogregeln wiederbelebt. Die Gesprächssitua­ti­on von Buch I verkörpert allegorisch die platonisch verstandene conditio humana. Die im Kör­per eingekerkerte Geistseele ist unter Anleitung der Philosophie bemüht, sich ihres vor­geburt­lichen Wissens wieder zu erinnern, das sie bei ihrer Vereinigung mit dem Körper ver­gessen hat - parallel zum Gescheehen im Gesamtkosmos: Abfall vom Einen (Gott) ins Materi­elle und an­schlie­ßende Rückkehr zum Ursprung. - In II werden charakteristisch-stoische Ge­dan­ken ent­wickelt: Kein Vernünftiger wünscht die unverrückbaren Gesetze des Kosmos ge­än­dert, nach denen es natürliche Wechselfälle und Unsicherheiten geben muß, zumal die wahre Glückselig­keit im Inneren des Menschen, im Bewußtsein der eigenen Tugend, begründet liegt und daher die äußeren Glücksgüter, die die launische Fortuna zu gewähren oder wieder zu rau­ben ver­mag, dafür indifferent sind. In III argumentiert Boethius ganz im Sinne von Aristoteles’ tele­o­logischer Glücks- und Tugendlehre: Bei aller Verschiedenheit der Teilziele streben die Men­schen doch alle nach demselben Letztziel, der Glückseligkeit. Im Sinne des neuplatoni­schen Voll­kommenheitsbegriffs definiert Boethius das höchste Gut als das Allumfassende, das jeden positiven Gehalt, jedes einzelne Gut, in sich befaßt. Die Glückseligkeit als der entspre­chende subjektive Zustand fällt mit Gott als dem unüberbietbaren Guten zusammen, über den hinaus sich nichts Besseres denken läßt, wie Boethius, Anselms berühmte Formel vorwegneh­mend, sagt. Da Boethius neuplatonisch annimmt, das Unvollkommene setze notwendig ein Vollkom­me­nes als seinen Ursprung voraus, ist aus der Existenz einer unvollkommenen Welt zwingend auf die Existenz eines absolut Vollkommenen zu schließen. Es kann aber nur ein einziges höchstes Gut geben, da von zwei Verschiedenen das Eine nicht sein kann, was das andere ist, und so wegen fehlender Vollkommenheiten nicht uneingeschränkt vollkommen sein könnte. Diese Gleichsetzung bedeutet, daß der Mensch sich durch Erreichen der Glückseligkeit selbst vergöttlicht. Dies ist indes keine so unchristliche Annahme, wie es zunächst scheinen mag. Denn für Boethius gibt es nur einen Gott von Natur aus. Die Menschen können nur Götter durch Teilhabe werden, d.h. bloße Abbilder des Göttlichen (Gott in einem ganz anderen Sinne). Die These der Vergöttlichung ist darum nicht per se verfänglich. Unchristlich ist nur, daß Boethius die Mittlerschaft Christi offenbar nicht als notwendig erachtet, sondern glaubt, der Mensch könne aus eigener Kraft unter Leitung der philosophischen Vernunft zu seinem göttlichen Ursprung zurückkehren. Vielleicht hat er (etwa im Sinne der späteren Auffassung einer doppelten Wahrheit) parallel nebeneinander christlich-dogmatische Theologie und Philo­sophie in der Tradition eines heidnischen antiken Neuplatonismus getrieben, ohne skrupulös nach ihrer Vereinbarkeit zu fragen. - In der Theodizeefrage in IV betrachtet er (anders als bei heutigen Ansätzen) das Schlechte nicht als eine unbestreitbare Erfahrungstatsache. Vielmehr leitet er aus Gottes Attributen ab, daß nichts (nichtig) sein müsse, da es nichts gibt, was Gott nicht vermag, er aber (bei seiner wesensmäßigen Gutheit) das Böse nicht vermag. Hiermit soll sicher nicht bestritten werden, daß das Böse existiert im allgemeinsten Sinn eines ‘es gibt irgendwie’. Sofern man jedoch Sein und Wirkmacht (potentia) d.h. das Vermögen, etwas Posi­tives zu bewirken, gleichsetzt, ist das Böse nicht seiend. Ferner ist nur der Gute wahrhaft glück­lich, sofern das gute Tun seinen Lohn in sich selbst trägt (nur ein äußeres Gut als erstreb­tes Ziel vereitelte den genuin sittlichen Charakter), während das Übeltun (etwa angesichts inne­rer Zerrissenheit) unmittelbar in sich selbst eine Strafe bedeutet. - In V versucht Boethius, das Problem, inwiefern ein unfehlbares Vorauswissen Gottes keine Determination des Geschehens zu bedeuten braucht, das Freiheit vereitelt, durch den erkenntnistheoretischen Grundsatz zu lösen, Erkennen als eine Tätigkeit richte sich nach dem Vermögen des Erkennenden, nicht nach der Eigenart des zu erkennenden Gegenstandes. Dies bedeutet, daß Gott die zeitlichen Dinge vom Standpunkt seiner Ewigkeit aus begreift. (Ewigkeit heißt hiernach nicht eine grenzenlose zeit­liche Dauer, sondern meint, daß der gesamte Inhalt, der in einer zeitlichen Sukzession nach­ein­ander kommt, im nie vergehenden Augenblick ewiger Gegenwart auf einmal ganz vorhan­den ist. Damit sieht Gott das von unserem Standpunkt aus Künftige nach Art unseres Ge­gen­warts­wissens. Gegenwärtiges aber kann auch ein Mensch unbeschadet seiner Kontin­genz un­fehlbar wissen. Zeitlichkeit wäre hiernach bloß aus unserer Perspektive gegeben. Bedeu­tet dies, daß in Gottes Unzeitlichkeit, da ein zeitliches Nacheinander Widersprüche auf­löst, Wider­sprü­che vereinigt sind? - Dem liegt Boethius’ Erkenntnistheorie zugrunde, nach der die Rezep­tivi­tät der bloß passiven Sinnlichkeit nur den Anlaß für die spontane Tätigkeit des Geistes gibt, der im Sinne a priori gewußter Formen das Sinnesmaterial durchdringt. Erkennen ist so we­sent­lich eine spontane Leistung des Erkenntnisvermögens, das gemäß seiner Eigenart die Gegen­stände er­kennt. So erfaßt die göttliche Vernunfteinsicht, indem sie ihren Gegen­stand, die reine mate­rie­lose Form oder Gott selbst, erfaßt, auch die Gegenstände der niederen Erkennt­nisvermögen: Sinnlichkeit, Vorstellungsvermögen, Verstand, nämlich die Sinnesdinge, ihre äu­ße­ren Gestalten und Artnaturen. Sie erfaßt diese aber nicht gemäß deren Eigenart oder gemäß der Eigenart der ihnen eigentümlichen Vermögen, sondern in der für Gottes Ewigkeit charak­te­ri­­stischen unver­brüch­lichen Weise, ohne daß dies die Kontingenz der Dinge in sich berüh­ren müßte.

 

 

Kap. 2: Die Frühscholastik: Anselm von Canterbury und Abaelard

 

A. Liefert Anselm notwendige Vernunftgründe für Glaubenswahrheiten?

 

In der Frühscholastik wurde viel debattiert, wie weit mit rationalen logischen Mitteln, zumal der aristotelischen Logik Glaubensgeheimnisse tiefer durchdrungen werden dürften. Anselm be­ansprucht sola ratione, also ohne Berufung auf die Autorität der Offenbarung nicht nur die Glaubensannahmen, die den drei Offenbarungsreligionen gemeinsam sind (Existenz und Wesen Gottes), sondern auch spezifisch christliche Glaubensdogmen (Trinität und Inkarnation) bewei­sen zu können. Unglaube wäre hiernach keine zu respektierende Grundentscheidung, sondern Tor­heit, evidente Vernunftzusammenhänge nicht anerkennen zu wollen. Von der erfahrbaren Schöp­­fung oder kontingenten Welt ausgehend glaubt Thomas, nur den einen Gott als deren not­­­wendiges oberstes Prinzip und letztes Ziel rational erschließen zu können; bereits Augusti­nus beanspruchte dagegen, durch Versenken in den eigenen Seelengrund dort ein Abbild des dreieinen Gottes, also des innergöttlichen Geschehens, finden zu können. - Thomas bean­sprucht ferner, unsere Glaubensüberzeugung an die Existenz Gottes lediglich als rational wohl­begründet erweisen zu können. Die für einen strikten Beweis zu fordernde Voraussetzungs­losigkeit ist nicht zu erbringen: Daß die Welt geordnet und zielgerichtet ist, ist streng genommen nicht beobachtbar, sondern nur eine plausible Annahme, die Welt zu erklären, so daß die ordnende Tätigkeit Gottes irgendwie bereits vorausgesetzt wird. Von einer (beobacht­baren) Wirkung ist immer nur ein wahrscheinlicher Rückschluß auf die Ursache möglich. Statt Thomas’ Vielheit von Probabilitätsgründen im Ausgang von der Erfahrungswelt, die sich ver­stärken und so die Wahrscheinlichkeit von Gottes Existenz erhöhen, ist Anselm im Proslogion bemüht, einen einzigen Beweis aus einem einzigen Prinzip heraus zu führen. Notwendige Ver­nunftgründe (necessariae rationes) für das Geglaubte findet Anselm nur, indem er a priori vom Begriff Gottes ausgeht. Ein Zug des Meditierens, der bei Descartes besonders ausgeprägt ist, ist das rein rationale Argumentieren, das von der erfahrbaren Wirklichkeit gänzlich absieht.

 

 

B. Eigenart und Geltungsbedingungen der Gottesbeweise im Proslogion und Monologion

 

Zum einen scheint das Proslogion voraussetzungslos argumentieren zu wollen, indem es zum fiktiven Gesprächspartner einen Ungläubigen wählt. Dieser ist ein Tor, nicht weil ihm die sprachlich-logische Kompetenz fehlte. Wenn er den Begriff Gottes als eines Wesens, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, hört, so versteht er sehr wohl den Sinn der Wor­te und insofern ist dier Begriff in seinem Geist (in intellectu). Aus Denkträgheit denkt er dies aber nicht zu Ende, zieht daraus nicht die Konsequenzen. Dieser größte Denkinhalt kann nicht auf bloßes Denken beschränkt bleiben; sonst nämlich wäre er, da das Wirklichsein größer ist als das bloße Gedachtsein, gar nicht das größtmögliche. - Gegen die Annahme eines voraus­setzungs­losen Vernunftarguments spricht: Anselm betrachtet den Glauben als die unerläßliche Voraus­setzung jeder Vernunfteinsicht. Das Proslogion spricht Gott betend an, geht also von Gottes Gegenwart aus und braucht nicht erst wie Descartes einen Solipsismus durch Gott zu überwinden. Der subjektive Glaubensakt (fides qua) stellt für die durch Erbsünde getrübte mensch­liche Erkenntniskraft eine unerläßliche Bedingung der Gotteserkenntnis dar. Hat die Gotteserkenntnis auch ihre objektiven inhaltlichen Voraussetzungen in den Glaubensinhalten (fides quae)? Was die Gültigkeitsbedingungen angeht, beansprucht Anselm ein aus sich heraus gültiges Beweisprinzip gefunden zu haben, von dem alle Beweise über Gottes Existenz und At­tri­bute abhängen, so daß es ausreicht, um darauf ein theologisches System zu errichten. Die Er­kenntnis soll die Seinsordnung spiegeln: Gott ist von nichts abhängig, aber alle bedürfen seiner, um zu sein und gut zu sein. Was hingegen die Bedingungen das Auffindens anbelangt, glaubt Anselm die Formel ‘quo maius cogitari non potest’ dem Glauben zu verdanken. Die Vernunft­argu­mentation will jedoch die Geltung von geglaubten Ausgangsbedingungen unab­hängig machen. Man kann auch im Ausgang von Erfahrung den Begriff eines unüberbietbar Voll­kom­me­nen auffinden, weil die minder vollkommenen erfahrbaren vergänglichen Dinge (über die hin­aus Größeres gedacht werden kann) ein notwendiges und unveränderliches Sein voraus­setzen. Logisch hängt der Begriff aber nicht von diesen empirischen Bedingungen des Auffin­dens ab. Sonst wäre Anselms Unterfangen gescheitert, gegenüber dem komplexen Argu­ment des Monologion im Proslogion die ganze Theologie auf ein einziges Beweisprinzip zu grün­den. Im Monologion entfaltet Anselm gerade dieses platonische Argument: Wo Seiende sich in ihrer ontologischen Wertigkeit (dignitas) graduell unterscheiden, muß es einen höchsten, abso­lu­ten Vollkommenheitsgrad geben, der in sich selbst gegründet ist, da eine unabgeschlossene Stu­fenfolge für Anselm undenkbar ist. Wo Seiende eine Bestimmung unterschiedlich voll­kommen repräsentieren, muß es auch die Bestimmung selbst absolut geben (als Urbild, an dem die ande­ren teilhaben). Hinter dem Unterfangen des Proslogion, aus einer einzigen Definition Gottes als einem evidenten Beweisprinzip alle Aussagen über Gott zu deduzieren, steht zum einen das ‘rationalistische’ Streben nach Prinzipiensparsamkeit. Zum anderen will Anselm da­durch aber der Einfachheit Gottes gerecht werden, indem er Existenz und Attribute Gottes gleich behandelt: Gott hat alle Bestimmungen, die zu besitzen besser ist, als sie nicht zu besitzen, einschließlich der Existenz.

 

 

C. Einwände gegen das ontologische Argument

 

Ein Haupteinwand gegen das Proslogion-Argument ist: Existenz ist kein reales (sachhaltiges) Prädikat (Kant), das wie die attributa Dei den Begriff Gottes ausmacht, Gott inhaltlich charak­terisiert, sondern besagt, daß dieser Begriff auf mindestens einen Gegenstand zutrifft. Wäre ‘existiert’ ausschließlich in diesem ‘es-gibt’-Sinn zu gebrauchen, dann wäre es in der Tat ein Trugschluß, Existenz als eine Vollkommenheit zu behandeln. Wenn Existenz jedoch den je­weils spezifischen Lebensvollzug, hier also das göttliche Leben, meint, so kann sie durchaus als Vollkommenheit gelten.

            Ein anderer Vorwurf hält dem Argument vor, hier werde illegitim ein Übergang vom Denken zum Sein vollzogen. Nun kommt es Anselm aber gerade darauf an, daß dieses Argu­ment nicht bezüglich irgendeines Maximalbegriffs geführt wird. Bei einem relativen Maximum, wenn etwas in einem begrenzten Seinsbereich oder in der jeweiligen Gattung das Vollkommen­ste ist (voll­kommenste Insel) läßt sich das Argument sicher nicht gültig führen, sondern nur bezüglich des alle Grenzen transzendierenden absoluten Maximums. Hier besteht nämlich eine besondere Rückbezüglichkeit des Denkens. ‘Das Größte denken’ kann sowohl bedeuten: den größ­ten Gedanken hegen (Akkusativ des inneren Objekts), wie auch: an das größte Objekt den­ken (äußeres Objekt). Anselms Argument kann somit in dem Sinne verstanden werden: Wenn man den größten Gedanken denken möchte, dann darf das Denken nicht bei sich selbst bleiben, sondern muß sich selbst transzendieren, muß einen größten Gegenstand in einer bewußt­seins­transzendenten Wirklichkeit denken. Beim Höchsten geraten wir in Paradoxien: um das Höch­ste zu denken, muß das rein Gedankliche transzendiert werden, Gott ist größer, als er gedacht werden kann. Das Größtmögliche kann gar kein Gegenstand sein, der notwendig etwas Unter­schiedenes, also Eingegrenztes ist. Damit wird auch die Unterscheidung von gedachtem und wirklichem Gegenstand hinfällig.

 

 

D. Abaelards Position in der Universalienfrage und der Erkenntnistheorie

 

Als scharfsinniger Dialektiker erkannte Abaelard sehr genau die Schwächen der universalien­realistischen wie der nominalistischen Position, die von seinen Vorgängern in recht naiver Form vertreten wurden. So glaubte der Realist Wilhelm von Champeaux, die universalen Gegenstände machten die gemeinsame Substanz und das ganze Wesen der jeweiligen Einzel­nen aus. Die Einzelnen bedeuteten demgegenüber nichts eigentlich Neues, sondern seien bloß bei­läufige, durch unwesentliche Eigenarten unterschiedene Erscheinungsformen der wesentlich identischen Substanz. Abaelard kritisiert, dies werde der Wirklichkeit voneinander unterschie­dener Einzelner nicht gerecht. Warum soll die Art und nicht eine noch allgemeinere Klassifika­tion (oberste Gattungen) das wesentliche Sein der Einzelnen erschöpfend erfassen. Auch die modifizierten Formen des Universalienrealismus verwarf er. Nach der Indifferenzlehre gibt es zwei Betrachtungsweisen desselben: Unter dem Aspekt der Unterschiedenheit (discretio) er­weist es sich als Singuläres, unter dem Aspekt der Ähnlichkeit, Übereinstimmung oder Unun­ter­schiedenheit (indifferentia) als reales Universale. Abaelard kritisiert hieran, der einschneiden­de Unterschied von Einzelheit und Allgemeinheit könne nicht so behandelt werden, als seien es nur zwei akzidentelle Zustände oder verschiedene Betrachtungsweisen desselben. Noch inak­zeptabler ist die collectio-Theorie, nach der das reale Universale die Summe der Einzelfälle ist. Aber ein kollektives Ganzes (Aggregat) wie eine Menschenmenge ist auch bloß ein Einzelnes. - Auch gegen einen naiven Nominalismus wendet sich Abaelard, das Universale sei lediglich eine stimmliche Verlautbarung (flatus tantum vocis). Ein Laut als etwas Physisches ist etwas Indivi­duelles. Allgemeinheit erlangt er erst, indem er kraft menschlicher Einsetzung (institutio) als bedeutungstragender Laut (vox significativa) eingeführt wird, um eine Vielheit von Einzelfällen zusammenfassend zu bezeichnen. Das Universale als ein Verstandesbegriff wird im Ausgang von Einzelnen durch Abstraktion gebildet, aber kraft der auf diese Weise einmal zustandege­kommenen Begriffsbedeutung (ex significatione intellectus) bleibt es bestehen; anders als bei der collectio-Theorie ist nicht verlangt, daß Einzelne als reale Grundlage des Begriffs jetzt exi­stie­ren. - Abstraktion meint bei Abaelard nicht wie im gemäßigten Universalienrealismus Thomas von Aquins, daß eine sachlich vorgegebene gemeinsame Wesensnatur aus den Einzel­dingen bloß herausgelöst zu werden braucht. Generelle Termini oder die sich in ihnen manife­stierende Allgemeinerkenntnis beziehen sich nach Abaelard nicht unmittelbar auf die Wirklich­keit, sondern bedeuten zunächst ein von unserem Geist gebildetes (fingiertes) Vorstellungsbild (res imaginaria quaedam et ficta), das die gemeinsamen Merkmale einer Gruppe von Gegen­stän­­den festhält. Welche Merkmale wir zum Allgemeinbegriff (forma communis) vereinigen, hängt dabei nicht so sehr davon ab, in welcher Weise der Gegenstand besteht, als vielmehr davon, welche Merkmale wir als wichtig befinden und worauf wir daher besonders aufmerken (attentio). Dieses allgemeine Vorstellungsbild ist zwar keine bloße Setzung unseres Geistes, sondern ein Bild eines Wirklichen, aber in der Gewichtung wird eine subjektive Komponente deutlich greifbar.

 

 

E. Der subjektive Ansatz in Ethik und Theologie

 

Dieser subjektive Ansatz wird in der Ethik fortgeführt. Gegenüber der damals herrschenden rei­nen Tatethik, wie sie sich etwa in den Bußbüchern spiegelt, nach der sich der sittliche Wert einer Handlung ausschließlich am objektiv Geschehenen bemißt, bringt Abaelard eine Intenti­onsethik zur Geltung. Das objektive Werk (opus) an sich ist hiernach für den sittlichen Wert in­different. Seine Bewertung ergibt sich allein daraus, in welcher Absicht es geschehen ist. Sünde setzt daher den consensus voraus, daß der Mensch willentlich und wissentlich dem zustimmt, was er als verwerflich erkannt hat. - Wenn man unter Intention nicht nur den frommen Wunsch ver­­steht, sondern den festen Entschluß, alles in den Kräften Stehende zu tun, dann mag es sitt­lich gesehen nicht auf den Erfolg ankommen, wohl aber muß sich die Intention an objektiven Maß­stäben messen lassen. Denn ein irrendes Gewissen ist auch bei bester subjektiver Absicht schuldhaft. - In der Theologie stellt Abaelard gegen die universalienrealistische Erbsündenleh­re, die Menschheit allgemein sei in Sünde verfallen und die verletzte Ehre Gottes verlange ob­jektiv eine Sühneleistung eines Menschen (Anselms Satisfaktionslehre) die subjektiv-personale Seite: Erlösung finde statt, wenn sich der einhelne der in Christus erschienenen bedingungslo­sen Liebe öffne. Gott versage - unabhängig von der Relilgion - keinem ernsthaft um den Glau­ben Bemühten das Heilsnotwendige.

 

 

Kap. 3: Thomas von Aquin

 

A. Inwiefern ist eine aristotelische Erkenntnislehre dem Christentum angemessener

     als ein platonischer Dualismus?

 

Die von Thomas angestrebte Synthese von geoffenbartem Glauben und natürlicher philoso­phi­scher Vernunft, von platonisch-augustinischer und aristotelischer Denkrichtung gelingt eher auf dem Boden des Aristotelismus. Die neuplatonische Lehre, daß die Körperwelt durch Abfall vom göttlichen Einen entstanden und daher umso schlechter sei, je mehr die Mate­ri­a­lität vor­herrscht, daß Erlösung folglich bedeute, sich von der Körperlichkeit und der materiebedingten Individualität zu lösen, widerspricht der christlichen Botschaft von der Auferstehung des Lei­bes und damit der individuellen Persönlichkeit. Gerade weil Thomas die christliche Botschaft ernst­nahm, die Sisnneswelt sei als Schöpfung Gottes grundsätzlich gut, vertrat er eine aristote­lische Erkenntnislehre: Die natürliche Vernunft als Teil der Sinneswelt und als das ihr ange­mes­sene Erkenntnisorgang, die das sinnlich erfahrene Einzelne auf die in ihm enthaltenen allge­mei­nen Strukturen hin durchdringt, kann auch für die Gotteserkenntnis als Ziel einer christli­chen Philo­sophie Positives leisten, indem sie in der guten Schöpfung Spuren des Schöpfers ent­deckt. Hierdurch werden Spannungen zur platonisch-augustinischen Lichtmetaphysik unaus­weichlich, nach der der Mensch unmittelbar, also ohne Vermittlung der Körpersinne, geistiger Erkenntnis fähig ist, indem er als Abglanz des göttlichen Lichtes erleuchtet wird und so Anteil an der gött­li­chen Wahrheit erhält. Damit zusammen hängt eine weitere Spannung: Während pla­tonisch-augustinisch die Seele der eigentliche Mensch und nur äußerlich dem Körper ver­bunden ist, ist die Seele für Aristoteles die Form, d.h. das Lebensprinzip des Leibes. Auch Tho­mas faßt die Seele als eine Form auf, aber eine subsistierende, die nach dem leiblichen Tod für sich zu bestehen vermag.

 

 

B. Die Synthese von autonomer menschlicher Moral und theonomer Ethik

 

Einerseits erkennt Thomas der menschlichen ratio die Fähigkeit zu, von sich aus zu sittlichen Maßstäben zu gelangen, ja er betrachtet sogar das menschliche Gewissen als die letzte Instanz, wenn ihm das irrende Gewissen als bindend gilt. Andererseits fordert er, daß der menschliche Wille sich, um gut zu sein, dem göttlichen Willen und seinem Gesetz unterwerfen müsse. Tho­mas sieht hierin aber nicht so sehr eine Spannung als vielmehr die Komplementarität von gött­li­cher causa prima und geschöpflicher causa secunda. Denn die göttliche Erstursache bedient sich der Geschöpfe nicht bloß als unselbständiger Werkzeuge, die sie vollständig determiniert, sondern ist vielmehr die ermöglichende Grundlage einer geschöpflichen Eigenwirksamkeit. Dies gilt auch von der lex aeterna, die die menschlichen Handlungsmaßstäbe nicht eigentlich inhaltlich determiniert. Vielmehr kann der menschliche Geist durch ein eigenständiges verglei­chendes Betrachten des konkreten menschlichen Verhaltens zu Maßstäben für den Willen ge­lan­gen. Aber eine normative Geltung erwächst daraus erst, wenn diese Maßstäbee auf die gött­liche lex aeterna als die Urnorm bezogen werden. Weil hier göttliche und menschliche Maßstä­be graduell ineinander übergehen und das göttliche Gebot nicht inhaltlich determiniert, sondern menschliche Eigenleistung ermöglicht, gelingt hier eine Synthese, ähnlich wie in der Erkennt­nis­­theorie, wo nach Thomas keine intelligiblen Inhalte durch Gott eingegossen werden, wo es viel­­mehr um eine formale Ermöglichung a priori dessen geht, daß der Mensch im Ausgang vom Ein­zelnen zu wahrhaft Allgemeinem gelangt. - Problematisch bleibt aber der Synthesever­such in­so­weit, als Aristoteles gemäß dem Nichtwiderspruchssatz eine unreduzierbare Vielheit von­ein­ander unterschiedener Inhalte (Formen) annimmt, während der Neuplatonismus mit einer letz­ten Einheit rechnet, in der alle Gegensätze zusammenfallen.

 

 

C. Inwiefern drückt die analogische Prädikation das Verhältnis Schöpfer-Geschöpf

     angemessen aus?

 

Die Analogie soll eine Einheit bei vorherrschender Vielheit oder Verschiedenheit ermöglichen. Bei der Proportionalitätsanalogie bestehen überstimmende Verhältnisse in getrennten Seinsbe­rei­­­chen. Durch die Attributionsanalogie versucht Thomas die theologisch bedeutsame Frage zu be­­antworten: Schreiben wir Attribute Gott und den Geschöpfen im selben Sinne oder in einem ganz verschiedenen zu? Die Univozität hätte einen Pantheismus zur Folge, weil Gott danach nicht von der Welt zu trennen wäre, folglich (da er wohl kein Teil sein kann) mit der Welt ins­ge­­samt gleichzusetzen wäre. Eine völlige Bedeutungsverschiedenheit (Äquivokation) anderer­seits wür­de Gott für uns unerkennbar machen, da wir unsere Begriffe und ihre Bedeutungen von den unserem Erkenntnisvermögen entsprechenden Körperdingen, die sittlichen Wertprädi­ka­te etwa, von den vernünftigen Geschöpfen hernehmen und dann erst auf Gott übertragen. Die sko­­tistische Konzeption, Gott und die Kreaturen hätten Eigenschaften im selben Sinne, nur in un­ter­schiedlichem, d.h. endlichem oder unendlichem Grad, ist nicht schlüssig. Gott besitzt alle Ei­­genschaften in aktueller Unendlichkeit oder einer nicht mehr zu überbietenden Fülle. Diese ist nur bei reinen Vollkommenheiten möglich, die nicht wie körperliche Vorzüge durch die be­grenz­te Aufnahmefähigkeit ihres Trägers nur beschränkt auftreten können, sondern eines ab­so­luten Maximuns fähig sind. Aber auch solche reinen Vollkommenheiten wie Einsicht und Liebe treten im menschlichen Erfahrungsbereich nur potentiell endlich auf, so daß sie ohne feste Ober­grenze beliebig gesteigert werden können. Da aktuelle und potentielle Unendlichkeit ein­ander als non plus ultra und als ein stetes plus ultra ausschließen, kann nicht derselbe Begriff vorliegen. Die aktuelle Unendlichkeit schafft auch eine neue Qualität, ist also mit Univozität un­vereinbar. Wenn wir die Bestimmungen Gott nur in einem ungleich höheren, aber endlichen Grad zuschreiben, dann kann er nur ein herausgehobener Teil der Welt, nicht ihr transzenden­tes Gegenüber sein. - Die analogische Prädikation als eine Form der Äquivokation oder Bedeu­tungsverschiedenheit soll der theologischen Forderung gerecht werden, das zwischen Schöpfer und Geschöpf die Unähnlichkeit größer ist als die Ähnlichkeit. Dennoch soll die reine Äquivo­ka­tion vermieden werden, daß bloß der Name gleich ist, sachlich aber keinerlei Zusammenhang besteht. Der sachliche Zusammenhang stellt sich bei der analogischen Prädikation als ein Nach­benanntsein oder ein Ableitungsverhältnis dar, daß vielfältige sekundäre Bedeutungen je ver­schie­den auf eine Grundbedeutung bezogen sind und diese in ihrer Definition voraussetzen. Die Prioritäten sind in der Erkenntnisordnung, wo die an der geschöpflichen Welt gewonnenen Be­stimmungen für uns primär sind, gegenüber der Seinsordnung umgekehrt. Das aus sich selbst her­aus bestehende göttliche Sein (ipsum esse subsistens) ist ursprünglicher gegenüber dem ge­schöpf­lichen Sein, das von außen verliehen werden mu߸ entsprechend sind die Attribute pri­­mär und in absoluter Reinheit nur bei Gott. In diesem Punkt stimmen Platon und Aristoteles sachlich miteinander überein. Das Nachbenanntsein (Aristoteles) läßt sich platonisch als Teil­habe beschreiben: Die sensiblen Dinge haben ihre jeweiligen Bestimmungen nur insoweit, als sie an der Idee teilhaben, ihr ähnlich zu sein streben. Auch die unüberbrückbare, qualitative Diffe­renz nimmt Platon an: In der erfahrbaren Handlung kann der Grad der Gerechtigkeit be­lie­­­big gesteigert werden (potentielle Unendlichkeit). Nur die Idee stellt das Gerechtsein in un­überbietbarer Reinheit dar. Aristoteles’ naturphilosophischer Begriff der Verursachung läßt sich mit Platons Vorstellung zusammenbringen, daß die Dinge in relativem Grad an der Idee par­ti­zipieren. Thomas vereint beides in seinem Kausalprinzip: Wenn etwas eine Bestimmung nicht in ihrer ganzen Fülle aufweist, so mußte diese in ihm durch ein anderes verursacht sein, das die Bestimmung absolut und daher aus sich heraus hat. - Sofern Gott etwas ihm Ähnliches schafft, können wir aus Spuren in der Schöpfung positive Rückschlüsse auf ähnliche Eigen­schaften Gottes ziehen (via positionis). Da aber die Unähnlichkeit größer ist, müßten wir im Sinne einer negativen Theologie alle geschöpflichen Prädikate von Gott eher verneinen, auch Vollkommenheiten wie ‘gerecht’, nicht als ob ungerecht wäre, aber weil er nicht in der Weise der Kreaturen gerecht ist (via negationis). Die Übersteigerung aller Bestimmungen schafft eine neue Qualität (via supereminentiae).

 

 

D. Thomas’ Ontologie:

     Die Beschreibung der Seinshierarchie durch die Akt-Potenz-Unterscheidung

 

Um zu erklären, inwiefern nur Gott schlechthin einfach ist, während alle Kreaturen zusammen­gesetzt sind, schreiben einige (Avicebron, Franziskaner) auch den reinen Geistwesen (intelli­gen­tiae, Engel) eine materia spiritualis zu. Thomas lehnt diese obskure ad-hoc-Annahme zu Recht ab und versucht den Unterschied dadurch zu erklären, daß alle Seienden außer Gott aus Akt und Potenz als Seinsprinzipien konstituiert sind, die Geistwesen aus esse und essentia, die Körperdinge aus Form und Materie. Seinsprinzipien heißt, daß sie keine selbständigen Seien­den sind, aber auch keine bloßen Reflexionsbegriffe, sondern als konstitutive Seinsmomente ihre Realität im konkreten Einzelding haben. Die Form verwirklicht die Materie, die die ermög­lichende Voraussetzung darstellt durch eine höhere Strukturiertheit oder eine höhere Tätig­keits­weise. Die forma substantialis bewirkt die grundlegende Existenzweise (esse simpliciter), z.B. das Leben als Mensch; die formae accidentales begründen ein zusätzliches Bestimmtsein (esse secundum quid). Da eine inhaltsidentische forma substantialis bei beliebig vielen Individu­en aufzutreten vermag, bedarf es zur Individuation (Vervielfältigung der einen Artnatur in ver­schiedene Exemplare) der materia signata quantitate (dimensionibus), der durch räumliche (und zeitliche) Erstreckung gekennzeichneten Materie, die zu einem Zeitpunkt nur an je einem Ort und insofern individuell auftritt. - Da die reinen Geistwesen (Engel) nicht materiell vervielfältigt werden, stellt jedes seine eigene Art dar. Nach dem Thomismus muß es bei den Körperdingen, da das Einzelne wegen der begrenzten Aufnahmefähigkeit der Materie nicht alle Vollkommen­heiten aufweist, deren die Art fähig ist, zahlreiche Artexemplare geben, nicht so bei Geistwe­sen. Da aber eine geschöpfliche Art in ihrer Essenz stets nur einen begrenzten positiven Inhalt und nicht die ganze Fülle des Seins zu repräsentieren vermag, muß es sauch hier viele Arten geben. Nur Gott ist einzig. - Die reinen Geistwesen sind aus Wesen und Sein im Sinne der Po­tenz und Akt zusammengesetzt. Das Wesen, sofern es durch einen konsistenten Begriff gege­ben ist, stellt zunächst bloß (als ein Modell) den Inhalt einer möglichen Existenz dar. Essenzen gibt es daher auch bei nie verwirklichten Möglichkeiten wie dem Phönix. Das esse, das Wirk­lichsein dieses begrifflichen Inhalts, muß jedem Geschöpf von außen durch ein göttliches Schöp­ferwirken verliehen werden. Der Schöpfungsbegriff bedingt einen bedeutsamen Unter­schied zwischen Aristoteles und Thomas. Da für Aristoteles die Welt immer schon war, betrachtet er das Wesen stets als konsituierendes Prinzip eines konkreten Seienden. Auch für Thomas ist die Essenz innerhalb der Schöpfung stets ein unselbständiges Seinsprinzip. Aber da die Schöpfung nicht schon immer war und nicht zwingend hätte zu sein brauchen, hat die Essenz insofern eine auch ontologische Unabhängigkeit, als Gott ihr kein Wirklichsein hätte zu verleihen brauchen. - Das esse im realen, aktiven Sinn eines Sinnvollzugs (actus essendi) ver­wirklicht eine Essenz und enthält insofern diesen begrifflichen Inhalt als verwirklichten in sich. Dennoch besteht insofern eine gewisse Unabhängigkeit von essentia und esse, als das ge­schöpf­liche Sein nur ein begrenztes Wirklichsein positiver Inhalte (Vollkommenheiten) dar­stellt und daher das esse, das aus sich heraus eine unbegrenzte Seinsfülle darstellt, von außen durch eine Essenz begrenzt werden muß. Gottes Sein als esse substistens besteht nicht bloß aus sich selbst heraus, sondern ist auch aus sich heraus bestimmt und individuiert (und fällt insofern mit seiner Bestimmtheit (Essenz) zusammen, weil die uneingeschränkte Seinsfülle, die Gott auf­weist, nur einmal vorkommen kann, so daß er von jedem anderen Seienden unterschieden ist. Während bei den Geschöpfen die Eigenschaften untereinander un von ihrem Subjekt verschie­den sind, fallen sie bei Gott real unter sich und mit ihm zusammen. Dennoch hält Thomas als Aristoteliker die begriffliche Unterschiedenheit aufrecht (Vielheit unterschiedlicher formaler Bestimmungen) und nimmt nicht wie der Neuplatoniker Nikolaus von Cues eine Koinzidenz der Gegensätze an. - Bereits Thomas differenzierte zwei Konzeptionen des Seins. Das reale Sein als Seinsvollzug (actus essendi) oder Verwirklichung positiver Inhalte (der Essenz) kann weder in ‘Caecitas est’ noch in ‘Deus est’ gemeint sein. Da Blindheit eine Ausfall- oder Man­gel­erscheinung ist, kann ‘ist’ hier nur im Sinne des logischen oder formalen Seinsverständ­nisses meinen, daß dieser Begriff auf etwas zutrifft. Da Gottes realer Seinsvollzug umgekehrt die für den menschlichen Geist unerfaßbaree unendliche Seinsfülle meint, kann unser Satz ‘Deus est’, den wir als Resultat der Gottesbeweise gewinnen, nur meinen, daß unser Begriff von Gott (die Nominalessenz) nicht leer ist. - Wenn für Thomas ‘ens’ das Bekannteste und von allen zuerst Erkannte ist, kann ‘ens’ nicht im Sinne des realen Seins in seiner aus sich heraus un­ein­ge­schränk­ten und daher uns unerfaßbaren Fülle verstanden sein. Vielmehr ist das logische Sein in­so­fern das Bekannteste, als wir alles, worauf immer wir denkend und sprechend Bezug nehmen, als ‘seiend’ verstehen müssen. Diese universale Anwendbarkeit bedingt freilich, daß das logisch verstandene ‘seiend’ ohne eigenen Inhalt ist, der Inhalt sich erst aus dem Begriff ergibt, auf den es bezogen wird. Das so verstandene Seiende ist auch transzendental, indem es (wie bei Kant) ein Verstehen jeglichen Gegenstandes erst möglich macht (freilich nicht, indem bloße Gegenstände des Erkennens konstituiert werden). Thomas’ und Aristoteles’ Verständnis des Transzendentalen ist recht gut am Nichtwiderspruchsprinzip zu erläutern. Dieses ist inso­fern das oberste Erkenntisprinzip, als es zugleich das oberste ontologische Prinzip ist: Es schafft insofern bestimmte Erkenntnisgegenstände, als es jene Bestimmtheit garantiert, ohne die es kein Seiendes geben könnte (und die ein Widerspruch sogleich zerstörte). Da das trans­zen­dentale Seiende keinen eigenen Inhalt hat, liefert erst das kategorische Seiende in seiner (auf das substantielle Seiende als Grundbedeutung bezogenen) analogischen Bedeutungsviel­falt inhaltlich gefüllte Grundbegriffe als Ausgangspunkt von Definitionen.

 

E. Inwieweit sind bei Thomas Gottesbeweise möglich

 

Da nach Thomas Gottes Essenz und Existenz zusammenfallen, verwundert es zunächst, wes­halb er Anselms ontologisches Argument nicht als gültig anerkennt, das Gottes Existenz qua realen Seinsvollzug aus der Essenz oder dem Begriff Gottes abzuleiten versucht. In der Tat gibt er zu, daß die Aussage ‘Deus est’ aus sich heraus bekannt (per se notum) ist. Dies ver­steht er wie Kant das analytische Urteil dahingehend, daß das Prädikat im Begriff des Subjekts eingeschlossen ist. Dieses Verhältnis gilt aber bloß der Sache nach (secundum se), nicht in bezug auf unser Erkennen (quoad nos), dem das mit Gottes realem Seinsvollzug identische Wesen unbekannt ist, also nicht zum Ausgang eines Beweises dienen kann. Ganz aristotelisch müssen wir daher von der Erfahrung ausgehend aus Spuren Gottes auf ihn zurückschließen. Gottes Existenz ist also weder aus seinem Begriff heraus evident noch streng beweisbar. Es gibt nur Wege. Diese führen zum einen bloß zum logischen Sein, daß unsere Aussage ‘Gott existiert’ wahr ist, unser Begriff auf etwas zutrifft. Zum anderen sind es bloße Plausibilitätsar­gu­mente. Bei diesen ist eine Häufung unabhängiger Argumente angemessen, da sich dadurch der relative Gewißheitsgrad erhöht. Dort wo stringente Beweise möglich sind wie in der Mathe­matik, reich ein­ Beweis, um die Schlußfolgerungen bei gegebenen Prämissen unbedingt gewiß zu machen. Dieser mag durch einen eleganteren Beweis ersetzt werden. Niemals aber werden hier mehrere Beweise benötigt. Die ersten drei Wege entfalten indes nur ein Grund­muster. 1. Weg: Etwas kann nicht aus sich heraus einen Veränderungsprozeß durchlaufen, weil das Verändernde (Bewirkende) die relevante Bestimmung haben muß, das Sichverändernde sie aber noch nicht haben darf. 2. Weg: Es muß in einer geordneten Reihe von Wirkursachen eine erste geben, weil die mittleren nur die empfangene Wirksamkeit weitergeben. 3. Weg: Gäbe es nur Kontingentes, das auch nicht sein kann, so wäre möglich, daß überhaupt nichts ist. Folg­lich muß es ein aus sich heraus Notwendiges geben. 4. Weg: Was eine Bestimmung nur in relati­vem (eingeschränktem) Grad besitzt, muß teilhaben an oder verursachth sein von dem, was sie innerhalb dieser Gattung maximal besitzt. 5. Weg: Ein regelmäßiges optimales Ergebnils muß auf bewußter Zielstrebigkeit beruhen, so daß unvernünftige Kreaturen von einem intelligenten Wesen gelenkt werden müssen. - Diese Wege führen zunächst bloß zu einem philosophischen Begriff eines ersten Bewegers, einer obersten Wirkursache usw. Diesen setzt Thomas sodann mit dem Gott des Glaubens gleich. Dieser (wie generell der mittelalterliche) Ansatz sieht kei­nen Gegensatz zwischen dem Zugang zu Gott durch Glauben und durch menschliche Ver­nunft, die angesichts ihrer Gottesebenbildlichkeit durchaus legitimiert ist, daß sie in ihren Be­griffen Gott zu verstehen versucht. - So vermeidet das Mittelalter die für ein neuzeitliches Den­ken cha­­rakteristischen Polarisierungen: ein aufklärerischer Rationalismus, für den die Offenba­rungs­religion als Vorstufe des unmündigen Menschen der philosophischen Vernunftreligion weichen muß, und einem Fideismus, der jeden Versuch der natürlichen Vernunft, Glaubensein­sichten zu vertiefen und zu erweitern, von vornherein ablehnt. Die mittelalterliche Synthese ver­schiedener Zugänge wird dem an ehesten gerecht, daß Gott jedes menschliche Fassungsver­mögen übersteigt, so daß es nicht den einen angemessenen Zugang zu Gott gibt. So wie in Er­mangelung eines einzigen, definitiven Beweises zahlreiche einzeln unzulängliche Probabilitäts­argumente einander zu einer vernünftigen Gewißheit verstärken können, nähern wir uns dem Geheimnis Gottes am meisten durch Vereinigen verschiedenartiger Zugänge eher glaubender oder eher nachdenkend argumentativer, eher rationaler oder eher irrational mystischer Natur. (Die mittelalterliche Mystik stellte indes Spekulationen von einem hohen intellektuellen Niveau an.) - Gäbe es stringente Gottesbeweise, so wäre es eigentlich folgerichtig, den Atheisten von seinem Unverstand zu kurieren, in dem er sich der zwingenden Vernunfteinsicht widersetzt. Um auf dem Boden eins aufklärerischen Rationalismus Toleranz aufrechterhalten zu können, mußte man so einem Wahrheitsrelativismus verfallen, daß jede Kultur ihre ureigene, mit anderen unvergleichliche Wahrheit habe. Wenn man hingegen in Glaubensfragen nur wie Tho­mas Wahrscheinlichkeitsargumente für möglich hält, so kann der Christ durchaus seine eigenen Überzeugungen für die wahrscheinlicheren halten, braucht aber doch andere Menschen nicht zwangszubekehren. Vielmehr kann er (wie Thomas in der Ethik) annehmen, daß in solchen Fragen, wo keine letztgültige Vernunftentscheidung möglich ist, das eigene Gewissen, sogar das irrende, die letztbindende Instanz ist.

 

 

F. Thomas’ Seelenlehre

 

Für den Dualismus Platons ist die Geistseele, die immer schon existiert hat und immer existie­ren wird, der eigentliche Mensch. Sie geht mit dem Leib nur eine äußerliche akzidentelle Ver­bindung ein, bedient sich verschiedener Leiber wie eines Gewandes oder Werkzeugs. Hiernach hätte der Leib eine rein negative Funktion, daß er die natürliche Erkenntniskraft der Seele schwächt und sie die intelligiblen Erkenntnisinhalte sogar vergessen macht. Dies widerspricht Thomas’ Grundüberzeugung, daß in Gottes ursprünglich guter Schöpfung alles Natürliche einem positiven Zweck dient. Aristoteles’ Lehre von der Seele als forma corporis, die den Leib zu einem Individuum einer bestimmten Art verwirklicht, indem sie ihn zu den arttypischen Tä­tigkeiten disponiert, vermag besser zu erklären, wie Leib und Seele eine substantielle Einheit eingehen. Bei ihr bleibt aber problematisch, wie die Seele (als ein unselbständiges Seinsprinzip) einer eigenständigen Existenz fähig sein soll. In seiner Antwort geht Thomas von dem Grund­satz aus: Jedes Wirken setzt ein entsprechendes Sein oder eine entsprechende Wirklichkeit vor­aus. Die Wirklichkeit oder das Prinzip, das den spezifischen Tätigkeiten eines Lebenden zu­grun­deliegt, ist aber die Seele. Um eine Wirklichkeit unabhängig vom Leib darzustellen, muß die Seele folglich eine vom Leib unabhängige Tätigkeit begründen. Dies trifft auf das intelligere als die spezifisch menschliche Tätigkeit der Geistseele zu. Dennoch ist die menschliche Seele kei­ne reine Geistseele, sondern Lebensprinzip des Leibes; denn das intellektuelle Leben, das sie im Leib bewirkt, umfaßt auch die niederen Lebensfunktionen: die mit den Pflanzen gemein­sa­men vegetativen Funktionen und das mit dem Tier gemeinsame Wahrnehmen, sinnliche Stre­ben, Sichbewegen. Da diese alle zusammen das eine esse simpliciter, das grundlegende Existie­ren als Mensch, ausmachen, müssen sie auch von einer einzigen substantialen Form bewirkt sein, der Geistseele, die die höchste Befähigung der Seele ist und so als ihre Voraussetzungen dem Vermögen oder der Kraft (virtute) nach auch die niedrigeren seelischen Befähigungen ein­schließt. Daher bedarf es nicht eigens der niederen Seelenkräfte oder der forma corporeitatis, die die für die vitalen Funktionen angemessene Organisation des Körpers bewirkt. Da die Geist­­seele nicht von niedrigeren Vermögen abhängt und ihre eigentliche Tätigkeit körperunab­hängig ist, kann sie unverderblich den körperlichen Verfall überdauern; freilich ist dieser Zu­stand bis zur Auferstehung des Leibes unnatürlich verkürzt, da sie nicht alle in ihr angelegten Fähig­keiten zu entfalten vermag. In einer mittleren Position verwirft Thomas bezüglich des Seelenursprungs sowohl den Traduzianismus (Generationismus), die Menschenseele stamme wie ein Körperliches von einer anderen Seele ab. Auch verwirft er die These, die Geistseele sei völlig unabhängig vom Körper durch Gott explizit geschaffen worden. (Wie vererben wir dann auch geistige Anlagen?) Vielmehr glaubt er, Gott verleihe dem menschlichen Embryo, nachdem er vormenschliche Stadien durchlaufen habe, in einer eigenen Schöpfung eine Vernunftseele, die als Prinzip dieses bestimmten Leibes auch auf die vitale Entwicklung abgestimmt ist.

 

 

G. Göttliches und menschliches Erkennen

 

Der Mensch nimmt den Naturdingen gegenüber eine theoretische Einstellung ein, da er sie un­ab­hängig von seinem Wollen und Tun bereits vorfindet. Die theoretische Vernunft ist daher wahr oder falsch, je nachdem ob sie die ihr vorgegebenen Dinge, an denen sie ihr Maß findet, ein­holt oder verfehlt. Wahrheit ist deshalb eine Angleichung unseres Geistes an den Sachver­halt (adaequatio rei et intellectus). Gottes Geist ist demgegenüber seinerseits der Maßstab für die von ihm entworfenen und geschaffenen Naturdinge. Er hat von ihnen ein praktisches Wissen, wie es ein Hersteller von einem Produkt hat, das er konzipiert hat und herzustellen be­ab­sich­tigt. Gott kennt die körperlichen Dinge und Ereignisse nicht erst im nachhinein (a posteriori), nachdem sie bereits realisiert sind, sondern bereits a priori durch die Ideen oder Ur­bilder in sei­nem Geist. Diese vermitteln ihm zunächst ein bloßes Wissen allgemeiner begriff­licher Möglich­keiten (scientia simplicis intelligentiae). Erst durch den Entschluß, ein solches Kon­zept zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verwirklichen, wird daraus das Wissen von einem irgendwann Wirk­lichen (scientia visionis). - Der menschliche Geist demgegenüber hat weder in Form von Ideen ein angeborenes Wissen um intelligible Inhalte, noch vermag er diese unmittel­bar zu erfassen. Das Ersterkannte und der angemessene Gegenstand unseres Erkennens ist viel­mehr die (intelli­gi­b­le) Was­heit (quidditas) materieller Gegenstände (so wie unser Erkenntnis­ver­mögen Geist im Körper ist). Allein von ihnen hat der Mensch Sinneswahrnehmungen, die für ihn die Basis dar­stellen, die allgemeinen, begründenden Strukturen zu erfassen. Entspre­chend deutet Thomas die illuminatio um als etwas, was ein Erkennen sensibler Gegenstände in ihrer Wesensnatur (quidditas) möglich macht. Unmittelbar zu erkennen vermögen wir nur die Gegenstände, bei denen wir auf ein Vorstellungsbild (phantasma) rekurrieren können, das seinerseits aus einem durch Sinneswahrnehmung empfangenen Bild (species sensibilis) zurück­geht. Rein geistige Ge­genstände erfassen wir nur mittelbar über diese. In Thomas’ Zwischen­position zwischen einem Empirismus und einem platonsichen Apriorismus ist weder die Sinnes­wahrnehmung für sich genommen, noch ein rein geistiges Erkennen die vollständige Ursache des Erkennens. So bietet die Sinneswahrnehmung die Materialursache unseres Erkennens, indem sie uns die Erkenntnis­materialien oder Inhalte liefert. Da die Form des Allgemeinen, auf die diese Inhalte zu bringen sind, etwas Neues, Höheres darstellt, kann sie nicht aus bloßer Abstraktion erwachsen, sondern bedarf im intellectus agens einer eigenen Erkenntnisquelle. Er bewirkt, daß aus dem Sinnes­material eine Art geistiger Eindruck (species impressa) entsteht, die dem rezeptiven Geist (intellectus possibilis) eingeprägt wird. Diesen Eindruck können wir dann als mentales Aus­drucksmittel (species expressa) oder geistiges Wort (verbum mentis) verwenden, um uns auf die realen Dinge zu beziehen.

 

 

H. Die ontologische Fundierung der theoretischen und der praktischen Vernunft

 

Das theoretische Erkennen ist bei Thomas ontologisch fundiert dank der Adäquationstheorie, die eine unserem Erkennen prinzipiell zugängliche bewußtseinstranszendente Wirklichkeit an­nimmt. Um die auf ein Wirken ausgerichtete praktische Vernunft ontologisch zu fundieren, muß Thomas annehmen: Das Seiende insgesamt ist teleologisch auf das Gute als sein letztes Ziel ausgerichtet. Ens und bonum sind für ihn so konvertible Transzendentalien, d.h. der Sache nach austauschbar und nur verschiedene begriffliche Aspekte desselben. Die natürliche Tendenz eines jeden Seienden zur Seinsfülle ist so zugleich ein Streben nach dem Guten. Wenn Tho­mas von einer naturalis inclinatio des Menschen zum Guten spricht und die Sittengesetze als Vorschriften des Naturgesetzes bewertet, dann reduziert er keineswegs naturalistisch das Sollen (das Normative) auf das faktisch Gegebene (das Sein). Denn Naturgesetze sind für Tho­mas keine bloßen empirischen Generalisierungen des Faktischen, sie leiten sich vielmehr von der lex aeterna ab. In ihr manifestiert sich Gottes planende Absicht im ordnenden Lenken der übrigen Natur wie insbesondere seine Fürsorge für die Menschen. Damit liegt in den Gesetzen, die die vernünftigen Kreaturen durch Teilhabe am ewigen Gesetz aufzustellen vermögen, ein ursprünglich normatives Moment. Die inclinatio naturalis des Menschen ist demgemäß keines­wegs der unreflektierte Urtrieb des Unvernünftigen nach Seinsmehrung, sondern meint, daß der Mensch alles unter dem Begriff des Guten erstrebt, so daß sein Tun zielbewußt ist. Parallel dazu, daß die theoretische Vernunft von Prinzipien, die von Natur aus bekannt sind, ausge­hend zu wissenschaftlichen Einzelanwendungen fortschreitet, sind in der Praxis die Ziele das von Natur aus Vorgegebene, auf das der Mensch kraft seiner vernünftigen Natur festgelegt ist und von dem aus er auf die Mittel zurückgeht, die er zu realisieren vermag. Die Naturgesetze in der Praxis sind, was die obersten Beweisprinzipien in der Theorie sind: in sich begründete und aus sich heraus evidente Prinzipien.