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Philosophie des Hellenismus, der Spätantike und
Patristik
Teil I:
Von den hellenistischen
Philosophenschulen bis zur Spätantike
Kap.
1: Epikur und die Epikureer
A.
Allgemeine Charakteristik der hellenistischen Philosophie
Im Hellenismus suchte das ungebundene Individuum seine persönliche Glückseligkeit, weil mit der Polis nicht bloß ein fester politischer Rahmen, sondern auch eine allgemeinverbindliche Werteordnung zerbrochen war. Der Werterelativismus wurde noch dadurch gefördert, daß man durch die Entdeckungen Alexanders fremde Kulturen kennenlernte. Die platonische und aristotelische Metaphysik zerfiel in ihren Schulen. Platons Dialektik artete zu haarspalterischen Disputen aus, und die von Aristoteles vertretene methodische Eigenständigkeit der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen führte zu bloßer Einzelwissenschaft ohne eine übergreifende erste Philosophie. Daher setzten sich Philosophenschulen durch, die unmittelbar auf Sokrates’ Bemühen um ethische Fragen zurückgehen. Aristipps Gleichsetzung des höchsten Gutes mit der Lust ist die Wurzel des Epikureismus. Von Antisthenes’ These, zur Glückseligkeit reiche die allein von der individuellen Charakterstärke abhängige Tugend, führt ein direkter Weg zur Stoa. Die Kyniker provozierten in ihrer Bedürfnislosigkeit die gesellschaftlichen Normen als etwas bloß konventionell Geltendes, daher Widernatürliches (sophistische Unterscheidung).
B. Epikurs Erkenntnislehre (Kanonik)
Wie in fast allen hellenistischen Philosophenschulen steht bei Epikur die Ethik im Mittelpunkt, die nicht als Lehre von einem pflichtgemäßen Handeln, sondern von einem gelungenen Leben verstanden wurde. Ihr dienen die beiden anderen philosophischen Disziplinen. Die Physik soll von der abergläubischen Furcht vor Göttern und Tod befreien, die sensualistische Erkenntnistheorie die These stützen, daß das Gute letztlich etwas sinnlich Erfahrbares, nämlich Lustempfindung sein müsse. Auf Sinnliches verweisen alle drei Wahrheitskriterien: die unmittelbaren Wahrnehmungen, die Vorbegriffe, wenn ich in einem Allgemeinbegriff von einer bestimmten Art von Wahrnehmbarem die Einzelwahrnehmung vorwegnehme, und die Affekte oder Empfindungen, die den praktischen Werturteilen zugrundeliegen. Der Epikureismus ist keine Philosophie höchsten Ranges mehr, sondern hat teilweise die Züge einer philosophisch-wissenschaftlich verbrämten Heilslehre. Daher zollten die Anhänger Epikur geradezu abgöttische Verehrung und wichen sektiererisch nicht vom Wortlaut ihres Meisters ab. So finden sich denn auch zahlreiche nachweisliche Irrtümer bei den Epikureern, etwa in der These, Sinneserfahrung sei unwiderlegbar, da wir unverfälscht einen Sinneseindruck (z.B. ein feines atomares Bildchen) vom Gegenstand selbst empfangen. Diese These verkennt, daß unmittelbar rezipierte Sinneseindrücke im Erkenntnisprozeß überhaupt nicht als eigenständige Größen auftreten, sondern unsere Gegenstandserfahrung immer schon im Lichte unserer Wahrnehmungsgewohnheiten interpretiert ist.
C. Die epikureische Physik
Epikurs Physik erweitert die materialistische Atomtheorie von Demokrit und Leukipp in mindestens zwei Punkten. 1.) Gegen Aristoteles, für den das räumlich Ausgedehnte, wenn man es als solches oder als mathematische Abstraktion auffaßt, beliebig teilbar ist, nimmt Epikur auch ein mathematisch Unteilbares an. Da diese kleinsten Raumeinheiten alle gleichgestaltig sind, können sie nicht die Grundbausteine der Wirklichkeit sein, die verschiedene Gestalten haben müssen. Deshalb umfassen die physischen Atome mathematische als ihre Teile, sind aber insofern real unteilbar, als sie jene kompakte Materie ohne Vakuum darstellen. Lukrez’ Argument für die mathematische Unteilbarkeit, alles müßte sonst unendlich viele ausgedehnte Teile umfassen und wäre so unendlich groß, ist ein krasses Mißverständnis des Infinitesimalen. 2.) Weiter nahm Epikur anders als Demokrit an: Eine zufällige kleine Abweichung von der geradlinigen und gleich schnellen Abwärtsbewegung der Atome sei Ursache dafür, daß die Atome zusammenstoßen und so in jene Bewegungen und Wechselwirkungen geraten, aus denen Atomverbände und allmählich die gesamte erfahrbare Welt entstanden ist. Auch wenn wir einen akausalen Zufall als möglich einräumen - eine Annahme, durch die Epikur gegen den stoischen Determinismus die Freiheit aufrechtzuerhalten versuchte -, so ist es doch wenig plausibel, daß ein bloßes Willkürereignis die unerläßliche Bedingung für das Entstehen der Körpewelt mit ihrem im wesentlichen regelmäßigen Geschehen sein soll. - Das Postulat sinnlich nicht wahrnehmbarer Atome widerstreitet nicht Epikurs sensualistischer Erkenntnistheorie. Denn er gestattet auch Aussagen über nicht Wahrnehmbares, sofern sie von den Beobachtungstatsachen nicht widerlegt werden. Er rechnet dabei mit mehreren gleichberechtigten Erklärungen, die gleichermaßen mit der zu erklärenden Beobachtungstatsache übereinstimmen. Aber daß sich im unendlichen leeren Raum unendlich viele Atome bewegen, betrachtet er wohl als einzige Erklärung der Bewegungsphänomene.
D. Epikurs hedonistische Ethik
Jeder Mensch, ja jedes Lebewesen setzt unmittelbar und von Natur aus das Lustvolle mit dem Guten und zu Erstrebenden, das Schmerzliche aber mit dem Schlechten gleich. Im Sinne eines Lustkalküls kann der Mensch freilich auf gegenwärtige Genüsse verzichten oder sogar Schmerzen auf sich nehmen, um insgesamt ein Höchstmaß an Lust genießen zu können und den Schmerz zu minimieren. Charakteristisch für Epikurs Hedonismus ist, daß er keinen neutralen Zwischenzustand kennt, der weder lustvoll noch schmerzlich ist, vielmehr sei das Höchstmaß an Lust bereits erreicht, wenn alles Schmerzliche beseitigt sei. Man kann Epikur recht geben, daß man die Lustempfindung nicht wie Platon an einen Vorgang (Wiederherstellung des naturgemäßen Zustandes) zu binden braucht, da jemand auch das Befreitsein von Schmerzen und Sorgen als lustvoll empfinden kann. Gesundheit kann in der Tat als Fehlen jeglicher krankhafter Störungen aufgefaßt werden. Aber bei Lust und Schmerz als subjektiven Erlebnissen verhält es sich anders als bei den objektiv feststellbaren Körperzuständen. Ein völlig schmerz- und sorgenfreier Zustand, der aber ohne jeden positiven Sinnesreiz und freudige Erfahrungen ist, kann nach langer Krankheit und drückenden Sorgen angenehm empfunden werden, er kann einen bei langer, gleichmäßiger Dauer aber auch anöden. Dies ist genau das Indiz für einen neutralen, an sich indifferenten Zwischenzustand, daß er je nach Umständen so oder entgegengesetzt sein kann. Hieraus leitet Epikur als Lebensideal ab, daß ein äußerlich bescheidenes, zurückgezogenes, seelisch ungestörtes Leben zu erstreben sei. Wer die natürlichen und notwendigen Begierden nach Nahrung usw., deren Nichtbefriedigung Schmerz und Unlust bedeutete, auf einfachste Weise erfüllt, hat bereits die Höchstgrenze des Angenehmen erreicht. Die weder natürlichen noch notwendigen Begierden nach ausgesuchten Delikatessen, eleganter Kleidung oder nach politischem Einfluß, um das Leben zu sichern, können die Lust nicht mehr steigern und gefährden nur die seelische Ausgeglichenheit. Seelische Freude und Leid sind zwar auf körperliche Empfindungen zurückzuführen (als deren Erwartung oder Erinnerung), sie können aber gewichtiger sein, da sie alle Zeitdimensionen umfassen. So bedarf es auch geistiger Güter: Philosophische Einsicht soll durch den Gedanken vor Todesfurcht bewahren, daß Gutes und Übles nur in der Empfindung bestehen, der Tod als Auflösung von Leib und Seele in ihre atomaren Bestandteile aber das Ende jeglichen Empfindens bedeutet. Tugenden generell (auch die auf Vertrag beruhende Gerechtigkeit) sind damit keine Werte in sich selbst, sondern bloß ein Mittel, den ungestörten Seelenfrieden zu garantieren. Von der Freundschaft konzediert Epikur indes, daß sie über den Nutzen der Sicherheit hinaus um ihrer selbst willen geschätzt werde. - Indem Epikur das menschliche Ideal eines ungestörten Genießens auch auf die Götter überträgt, hält er es für ihrer unwürdig, sich um das Lenken der Welt zu sorgen und zu mühen oder gar Menschen zu strafen.
Kap. 2:
Die Stoa
A. Die stoische Logik
Das Erkennen wurde von den Stoikern weitgehend rezeptiv verstanden als ein Erleiden. Auch die Zustimmung (nI¥FO#CªnÇÑ) ist kein wahrhaft spontanes Moment, da eine kataleptische Vorstellung, in der wir einen Gegenstand erfassen, ein Merkmal seiner Wahrheit, das uns zur Zustimmung nötigt, in sich selbst trägt. - In der Semantik nahmen sie zwischen dem Zeichen (n¼HÉIÎI) und dem bezeichneten Gegenstand (OŒ¥r#IÎI) noch die Zeichenbedeutungen (n¼HÇIíHªIÎI) an. Das konkrete (hörbare) sprachliche Verlautbaren (G±ÌÇÑ) bezeichnet nicht unmittelbar den materiellen Gegenstand, sondern nur mittelbar über das von ihm Gemeinte oder Gesagte (GªFOíI). Unter den vollständigen Lekta (d.h. den Bedeutungen jeweils eines ganzen Satzes) sind vor allem die Aussagen logisch bedeutsam. Hier entwickelten die Stoiker gegenüber der aristotelischen Syllogistik, bei der es (als einer Prädikatenlogik) auf die allgemeinen Termini (Prädikate) und ihre Umfangsverhältnisse ankommt, die (nach heutiger Sicht) fundamentalere Aussagenlogik. Sie läßt die Elementaraussagen (einfache Lekta) unanalysiert und untersucht Aussageverknüpfungen (zusammengesetze Lekta), namentlich Konjunktionen (‘und’, f), Disjunktionen (‘oder’, v) und Implikationen (‘wenn-dann’, É), deren Wahrheitswert allein eine Funktion der verknüpften Teilaussagen ist. Die gültigen Schlüsse (LªMIOÇFÎd) wurden von den Stoikern als komplexe Aussagen (Lekta) aufgefaßt, die immer wahr sind und sich auf fünf ursprüngliche oder aus sich heraus evidente Syllogismen reduzieren lassen. Unter diesen haben die Stoiker zwei wichtige Schlußregeln entdeckt, den modus ponens: ((p É q) Ù p) É q und den modus tollens ((p É q) Ù ¬ q) É ¬ p, der es erlaubt, eine Hypothese zu verwerfen, wenn ihre (empirischen) Konsequenzen nicht eintreten.
B. Physik, Determinismus und pantheistische Theologie
Gegenüber den Epikureern, die das gesamte Weltgeschehen aus den mechanisch beschreibbaren Bewegungsvorgängen der Atome (Materie) im leeren Raum erklärten, glaubten die Stoiker eher wieder mit Aristoteles, der aus sich heraus passiven, bestimmungslosen Materie ein aktives, gestaltendes Prinzip entgegenstellen zu müssen. Mit ‘Natur’ (qÔnÇÑ) betonten sie, daß es ein den Lebendigen immanentes Bewegungsprinzip ist, das ihre Entwicklungen zielgerichtet steuert. ‘Logos’ bezeichnet, daß eine pantheistisch begriffene Weltvernunft alle Veränderungen in dem (als ein riesiger Organismus verstandenen) Kosmos hervorbringt und inhaltlich bestimmt. ‘Technisches Feuer’ hebt den Aspekt des kunstvollen Gestaltens hervor. In ‘Feuer’ wie in ‘(Lebens)hauch’ (LIªôH) zeigt sich, daß die Stoiker das geistige, formale, gestaltende Prinzip nicht so scharf wie Aristoteles von seinem materiellen Träger schieden, sondern es sogar, um seine Wirksamkeit in der materiellen Welt zu gewährleisten, mit einer feinen Materie gleichsetzten, die alles durchdringen und durchwalten kann. Freilich verstanden sie diese Materie nicht wie Epikur in mechanistischen, sondern eher vitalistischen Kategorien. - Die immanente kosmische Vernunft betrachteten sie unter den Gesichtspunkten: vernünftige Vorsehung, Schicksal, Zeus. Da sie die Existenz Gottes durch den consensus gentium, die naturgegebene Intuition aller Völker von Gott, bewiesen sahen, nahmen sie die allegorisch verstandene Volksreligion (Zeus) sehr ernst. - Da sie die Natur teleologisch begriffen (und zwar anthropozentrisch im Sinne einer äußeren Zweckdienlichkeit für den Menschen), nahmen sie eine ordnende Weltvernunft an, die alles unverbrüchlich kausal determiniert: Schicksalsnotwendigkeit (ªDHÑH±I¼). Diese sei aber kein blindes Geschick, vielmehr ermögliche der lückenlose Kausalzusammenhang erst die vernünftige Erklärung der Welt (‘fatum’ von ‘fari’ = ‘sprechen’). - Der eher praktische Gesichtspunkt einer planenden Fürsorge (LMíIÎÇ, providentia), daß es Gott am Besten der Menschen gelegen ist, wirft die Theodizeefrage auf, inwiefern das (pantheistisch begriffene) Weltall vernünftig und wohlgeordnet ist.
C. Die Tugendautonomie der stoischen Ethik
Die Stoiker hielten eine deterministische Physik für vereinbar mit einer Ethik, die Freiheit und Verantwortung voraussetzt. Die in einem unverbrüchlichen Kausalzusammenhang stehenden äußeren Ursachen (Außenweltreize) geben nur den unmittelbaren Anstoß. Es liegt beim Menschen und seiner Charakterbeschaffenheit, wie er daraufhin handelt. Bei seiner Charakterdisposition kann ein Mensch im Moment zwar nicht anders handeln, als er es tatsächlich tut. Aber er hat die Möglichkeit, diese Charakterveranlagung auf lange Sicht hin zu beeinflussen. Denn die irrationalen Regungen entspringen für die Stoiker keinem von der Vernunft unabhängigen Seelenteil, sondern sind eine durch Erkenntnisfortschritt zu überwindende Fehlleistung der Vernunft. Wie diese langfristige Formung der Seele freilich vom Kausalzusammenhang ausgenommen sein soll, vermögen die Stoiker nicht plausibel zu begründen. - Die stoische Ethik scheint in ihrer Forderung, gemäß der Natur zu leben, zunächst naturalistisch das sittliche Sollen aus einer vorgegebenen Naturordnung (Sein) ableiten zu wollen. So geht sie denn auch von dem allen Lebenden natürlichen Streben nach Selbsterhaltung, d.h. nach dem ihm Eigenen, Zuträglichen, Förderlichen aus. Die daraus erwachsenden Werte sind aber sittlich indifferent. Eine naturgemäße Handlung erfüllt so nur ein bloßes unerreichbares Ideal. Die Ethik der alten Stoa in ihrem radikalen Entweder - Oder wäre damit praktisch irrelevant, da faktisch alle Menschen Toren und elend bleiben und das utopische Ideal des glücklichen Weisen ihnen nichts nützt. Für den Fortschreitenden der jüngeren Stoa kann ein unerreichbares Ideal hingegen Ziel und Orientierung sein.
Kap. 3: Die antike
Skepsis
A. Gleichgewichtigkeit entgegengesetzter Erscheinungen,
Urteilsenthaltung und
Ataraxie
Das gemeinsame Ziel der ganzen griechischen Philosophie seit der ethischen Wende durch Sokrates ist das (meist als Glückseligkeit bezeichnete) gelungene Leben. Die Besonderheit aller hellenistischen Schulen ist die Auffassung: Notwendige Bedingung, aber auch hinreichender Garant dieser Eudaimonie ist der ungestörte Seelenfrieden (!OMÌd), daß man bei allen äußeren Verwirrungen einer Umbruchszeit seelisch unerschütterlich bleibt. Dieser Rückzug auf die Innerlichkeit nimmt bei den Stoikern die extreme Form an, daß das Bewußtsein der eigenen Tugend oder die Übereinstimmung mit der Weltvernunft eine hinreichende Garantie der Glückseligkeit sei. Gegen solche Theorien der stoischen Dogmatiker wandten sich die pyrrhonischen Skeptiker. ‘Dogmatiker’ meint hier jemanden, der eine feste Lehrmeinung vertritt, auch bis in die letzten Konsequenzen hinein, die in eklatantem Widerspruch zur erfahrbaren Wirklichkeit stehen können. Eine solche unrealistische Voraussetzung ist die stoische Auffassung: Allein kraft einer willentlichen Entscheidung kann der Mensch die stets gefährdeten äußeren Güter als wertneutral und damit für die Glückseligkeit nicht maßgeblich erklären. In einer viel realistischeren Psychologie glaubten hingegen die pyrrhonischen Skeptiker: Da der Mensch die Wertungen, die sich ihm durch natürliche sinnliche Regungen gleichsam aufzwingen, nicht unterdrücken, sondern nur in maßvolle Affekte verwandeln kann, richtet er seine Versuche, zur Ataraxie zu gelangen, vernünftigerweise auf die Güter und Übel, die durch bewußte Wertsetzungen dazu geworden sind. Wer sie als von Natur aus gut oder schlecht bewertet, der legt sich kraft des in einem solchen Werturteil enthaltenen normativen Anspruchs darauf fest, intensiv nach ihnen zu streben oder sie zu meiden. Das aber beeinträchtigt durch Empfindungen wie Verdruß über Nichtbesitz, übermäßige Freude über Erwerb, Angst vor Verlust den Seelenfrieden. Zu diesem gelangen wir, wenn wir die vermeintlichen Güter und Übel explizit als wertneutral erkennen. Da dies uns wohl kaum gelingen wird, beschritten die Skeptiker den anderen Weg, daß wir Wertungen und dadurch entstehende Verwirrungen unterbinden sollen, indem wir uns unsere Unfähigkeit klarmachen, den wahren Wert eines Gegenstandes oder seine wahrhafte Beziehung zu Glück und Unglück zu erkennen. Demgemäß versuchten die Skeptiker in vier Stufen die Glückseligkeit zu erklimmen. Allein die erste Stufe stellt eine bewußte Aktivität dar, die gegensätzlichen Bewußtseinsphänomene, sowohl das sinnlich Erscheinende wie das Gedachte, gegeneinander auszuspielen. Ganz im Sinne des späteren Phänomenalismus nahmen die Skeptiker an, daß ich mir dieser unmittelbaren Bewußtseinsphänomene zweifelsfrei gewiß sein kann; sie sind eindeutig; sie scheinen sich nicht genauso auch in entgegengesetzter Weise zu verhalten (das Warme auch kalt zu sein usw.). Sowie ich aber versuche, aus diesen subjektiven Erfahrungen objektive oder für jeden gleich verbindliche Urteile über Gegenstände der Außenwelt zu gewinnen, stellt sich als zweite Stufe selbst die Erfahrung der Gleichgewichtigkeit (çnÎnC±IªÇ) ein, daß gegensätzliche Eindrücke (Erscheinungen) und konträre Argumente uns gleich verläßlich erscheinen, genau die gleiche Überzeugungskraft haben. Dies aber bedeutet Urteilsenthaltung («LÎr¿) (3. Stufe). ‘«LÎr¿’ meint hier indes nicht wie bei Stoikern und Akademikern das aktive Innehalten, den bewußten Verzicht auf ein mir mögliches Urteil, sondern eher den passiven Zustand der Urteilslosigkeit: Aus dem geistigen Schwebezustand (!MMªsd) heraus, daß die Waage des Geistes bei der Gleichgewichtigkeit der sinnlichen Eindrücke und rationalen Gründe nicht ausschlägt, ist erst gar kein Urteil möglich. Indem diese Urteilslosigkeit vor falschem Engagement bewahrt, führt sie zu ungestörtem Seelenfrieden (4. Stufe). - Fraglich ist, ob die erkenntnistheoretische Skepsis von vornherein als Mittel eingesetzt wurde und das Scheitern der Wahrheitsfrage geradezu als Programm entwickelt wurde, um über die Ataraxie zur Glückseligkeit zu gelangen. Selbst wenn die durch Ataraxie gewährleistete Glückseligkeit als Ziel feststeht, ist keineswegs gesagt, daß eine durchgängige Isosthenie das geeignete Mittel dazu ist. Es scheint viel natürlicher (wie Sextus es auch selbst darstellt), daß der Mensch die Verwirrung durch den Widerstreit der Erscheinungen dadurch zu überwinden versucht, daß er Ordnung in diese ‘Anomalie’ bringt und Wahres von Falschem scheidet. Dieses Unterfangen erweist sich angesichts sachlich unentscheidbarer Isosthenien als nicht durchführbar. Daher hält der Skeptiker (bewußt) inne, nicht im Urteilen, das aus dieser Situation heraus gar nicht möglich ist, sondern elementarer im Suchen nach Entscheidung und Wahrheit. Als ein zufälliges ganz unerwartetes Resultat dieses Innehaltens stellt sich Ataraxie ein, freilich in ganz anderer Form als erwartet, nicht indem er den Wirrwarr der Erscheinungen klärt, sondern indem er durch Unentschiedenheit die verwirrenden Emotionen vermeidet, die ein angespanntes Streben unweigerlich begleiten. Eine erkenntnistheoretische Skepsis, die dem ethischen Ziel dienen soll, Wertungen zu unterbinden, muß dennoch eine universale Skepsis sein und darf sich nicht auf Werte beschränken. Denn nur bei der naturalistischen und kognitivistischen Auffassung, daß sich in wertenden und vorschreibenden Urteilen genauso wie in deskriptiven Urteilen objektive Erkenntnisse der (metaphysischen) Natur artikulieren, ist die Strategie wirksam aufzuweisen, daß solche Erkenntnisse der Natur dem Menschen verschlossen sind. Artikulieren sich in Werturteilen nur subjektive Empfindungen (Emotivismus), dann liegen eher unwillkürliche Wertungen aus nicht-rationalen Affekten vor, die sich nach den Pyrrhoneern nicht durch rationale Überlegungen unterbinden lassen. Wenn durch eine erkenntnistheoretische Skepsis ein ethisches Ziel: Glück, indem man sich der Wertungen enthält und dadurch Seelenfrieden findet, erreicht werden soll, dann muß die angegriffene Position ein ethischer Naturalismus und Kognitivismus sein: Nur wenn sich in Werturteilen eine objektive, wahre oder falsche Erkenntnis artikuliert, die sich auf die (metaphysische) Natur der Dinge bezieht, ist eine skeptische Kritik treffend, die allgemein jede Form einer objektiven Erkenntnis bestreitet. Artikulieren Werturteile dagegen bloß subjektive Empfindungen (Emotivismus), so stellen sie die nur beschränkt beeinflußbaren irrationalen Wertungen dar.
B. Scheitert die Skepsis als momentane individuelle Erfahrung an der
Notwendig-
keit allgemeiner Grundsätze?
Eine prinzipielle Skepsis, die einen Dogmatismus mit umgekehrten Vorzeichen verficht, scheitert an dem förmlichen Widerspruch, daß sie die These, es gebe kein begründetes, wahres Urteil, selbst für eine solche wahre Aussage hält. Daher vertreten die pyrrhonischen Skeptiker denn auch nicht die Auffassung, jeder Versuch einer objektiven Erkenntnis müsse prinzipiell scheitern, weil sich zu jeder These eine gleich gut begründete Gegenthese formulieren lasse. Vielmehr fassen sie es nur als eine den einzelnen Denker und den gegenwärtigen Zustand betreffende Erfahrung auf, daß ihnen zu jeder Meinung, die sie zu etablieren versuchen, die Gegenmeinung ebenso gut begründet zu sein scheint. Wenn eine solche Position scheitert, dann offenbar nicht an einem expliziten, förmlichen, sondern einem pragmatischen Selbstwiderspruch, daß die Skeptiker in ihrer argumentativen oder sonstigen Praxis etwas voraussetzen, was ihren Grundsätzen widerstreitet. Indem sie nicht dogmatisch eine prinzipielle Unerkennbarkeit behaupten, wollen sie offenbar einen inneren Widerspruch vermeiden, erkennen damit aber zumindest das Nichtwiderspruchsprinzip als wahr an. Dem können die Pyrhoneer dadurch auszuweichen versuchen, daß sie den Widerspruchssatz gleichfalls nicht als allgemeingültiges logisches Prinzip behandeln, sonder nur als ‘Phänomen’, d.h. etwas, wovon nur dem einzelnen scheint, er müsse es seinen Operationen zugrundelegen, das sich aber durchaus als verzichtbar erweisen könnte. Diese Position ist zwar formal unanfechtbar, erweist sich aber angesichts der wirklichen Verhältnisse als äußerst unglaubwürdig, da es in keiner Weise absehbar ist, wie wir jemals ohne das Prinzip einem etwas mitteilen können, daß wir das Behauptete nicht zugleich und im selben Sinne wieder aufheben dürfen. - Ferner ist implausibel, weshalb er nicht nach einer Erkenntnis der Wahrheit strebt, sofern er diese für möglich hält. Denn ein Skeptiker kann dies ja nicht durch die Einsicht rechtfertigen, daß Erkenntnis der Wahrheit für das Ziel des Glücks unerheblich oder sogar abträglich ist. Und für den Pyrrhoneer begründet die Erfahrung, daß seine Wahrheitssuche bisher stets gescheitert ist, keine größere Wahrscheinlichkeit, daß sie künftig gleichfalls fehlschlägt, als daß sie künftig gelingt. Auch dies legitimiert folglich nicht, von der Wahrheitssuche abzusehen, ein Verhalten, das sich auch nicht als durch gesellschaftliche Konventionen und Bräuche nahegelegt erklären läßt. Die pyrrhonischen Skeptiker können damit nur über ihr (rein passives) Erleben im Einzelfall berichten, müssen aber jede Verallgemeinerung ablehnen, da diese eine Einsicht in sachliche Zusammenhänge oder die Natur der Dinge voraussetzt, die so ist, daß sie eine Entscheidung unmöglich macht. Auch wenn eine solche Position konsistent ist, macht sie offenbar lebensunfähig, da die Skeptiker gezwungen sind, jeden Fall von Grund auf neu zu behandeln, und ihnen ein wesentliches Moment menschlicher Denkökonomie verschlossen ist, daß sie aus vergangenen Erfahrungen für künftige Fälle lernen können. Streng genommen dürften sie nicht einmal im Sinne plausibler Gebrauchsgrundsätze verallgemeinern. Dies aber tun sie in ihren Merksprüchen (qtId) und vor allem in den Tropen.
Die zehn Tropen des Ainesidemos versuchen durch Verweis auf die Verschiedenheit der erkennenden Subjekte, der Organe, Zustände, Medien, Standpunkte des Wahrnehmens sowie der Gewohnheiten erklärbar zu machen, inwiefern dasselbe zu ganz widerstreitenden Bewußtseinsphänomenen führen kann. Damit erweisen sie aber noch nicht, daß ein derartiger Widerstreit unentscheidbar ist. Ainesidemos betont zwar zu recht, daß uns ein neutraler Zustand außerhalb der widerstreitenden Erscheinungen unmöglich ist, von dem aus wir mit absoluter Gewißheit verläßliche von trügerischen Erscheinungen zu unterscheiden vermögen. Sehr wohl aber ist uns durch einen immanenten Vergleich (etwa der inneren Kohärenz) ein relatives Urteil möglich, daß die Erscheinungen im Wachzustand verläßlicher sind als die im Schlaf. - Die fünf Tropen Agrippas versuchen in einer systematischen Argumentation die Unentscheidbarkeit des Widerstreits aufzuweisen. Hierbei entsprechen sie dem Münchhausentrilemma des kritischen Rationalismus (Hans Albert), wenn man von den fünf Tropen den Widerstreit als Ausgangspunkt, die Relativität aber als Ergebnis betrachtet: Wenn alle Versuche, die Sache selbst absolut zu erfassen, in einem unentscheidbaren Widerstreit enden, so kann man stets nur relativ auf die besonderen Bedingungen eines bestimmten Subjekts von ihr reden. Daß die Pyrrhoneer diese sachlich vorhandene Systematik als mit ihrem Ansatz unvereinbar durch die Reihenfolge der Tropen zu verhehlen suchen, macht ihr Unterfangen suspekt. Ausgangspunkt des Trilemmas ist z.B., daß Sinneswahrnehmung und rationales Denken uns widersprechende Zeugnisse liefern und daher der Überprüfung und Bestätigung bedürfen. Rechtfertigt man Sinneswahrnehmungen durch andere, entsprechend die Vernunfteinsichten, so kommt es zu einem unendlichen Regreß; rechtfertigt man beide durcheinander, so bedeutet dies einen Zirkel. Vermeiden läßt sich das nur durch eine dritte Form von Argumentationsfehler, daß man willkürlich eine unbewiesene Voraussetzung macht. Auch wenn diese Argumentationen zeigen, daß es keine auf zweifelsfreiem Fundament letztbegründeten Wahrheiten gibt, so schließen sie keineswegs aus, daß etwas sich im Sinne größerer Plausibilität entscheiden läßt. Eine Disjunktion zweier Tropen zeigt, daß unausweichlich der Widerstreit unentscheidbar ist. Da es zu einem Widerstreit kommt, kann keines evident und aus sich heraus erfaßbar sein; versucht man aber etwas aus anderem zu erfassen, ohne es auf etwas aus sich heraus Evidentes zurückführen zu können, gerät man in dieses Trilemma. Eine weitere Liste von acht Tropen wendet sich gegen Kausalerklärungen. Wenn der Skeptiker jegliche Erkenntnis allgemeiner Zusammenhänge ausschließt, bereits bei logischen Gesetzen, dann erst recht bei realen Verursachungszusammenhängen, die es gestatten, zutreffende Prognosen aufzustellen. - Wenn sie gegen eine stoische These (es gibt ein Wahrheitskriterium, Vorsehung durchwaltet die Welt) eine Gegenargumentation führen, so wollen sie nicht diese These definitiv umstürzen und in einem negativen Dogmatismus das Gegenteil begründen. Vielmehr setzen sie die Behauptung als hinreichend durch Beweis und allgemeine Anerkennung etabliert voraus, wollen lediglich eine weniger beachtete gegenteilige Denkmöglichkeit als ebenso gut begründbar zu bedenken geben und so eine Isosthenie schaffen. Um der Konsistenz willen kann der Skeptiker nicht beanspruchen, ein (Gegen)argument vorzutragen. (Denn dazu müßte er die zugrundeliegenden logischen Prinzipien anerkennen.) Vielmehr berichte er nur über ein inneres Erlebnis, daß ihm zu jeder Meinung eine genauso überzeugende Gegenmeinung erscheine. Isosthenien sind hiernach also nichts mit Vorbedacht Herbeigeführtes, sondern wider Willen Erfahrenes. (Eine bewußt herbeigeführte Gleichgewichtigkeit müßte von ihnen als förderlich für die Glückseligkeit erkannt werden. Kann eine solche Unentschiedenheit aber nicht gerade beunruhigen?) Auch wenn Mißtrauen gegen definitive Wahrheiten angesichts von Irrtümern natürlich und naheliegend sind, so muß doch (wie es die skeptische Praxis zeigt) ein völliges argumentatives und phänomenales Gleichgewicht durch ausgeklügelte Argumentationen herbeigeführt werden. Auch wenn Agrippas Tropen eine letztgültige begründete Wahrheit zweifelhaft machen, ist damit noch lange nicht ausgeschlossen, daß eines plausibler als das andere ist.
C. Ist es möglich, skeptisch ohne eigene Wertentscheidungen zu leben?
Die Gegner warfen den Skeptikern schon immer vor, ihre Lehre durch ihr Leben ad absurdum zu führen. Entweder vereitele die Skepsis jedes höhere Leben, das wesentlich in Streben und Meiden besteht, und führe zum Dahinvegetieren gleich den Pflanzen. Oder aber der Skeptiker widerspreche sich durch sein Tun, indem er sich in Extremsituationen wie jeder andere, der Überzeugungen habe, entscheide. - Sextus erwidert, daß die Skeptiker ohne dogmatische Überzeugungen, indem sie auf die Phänomene achten, nach der lebensweltlichen Beobachtung leben. Dem Vorwurf, leben bestehe wesentlich im Tun, verlange somit eine Entscheidung für Erstreben oder Meiden, oder noch elementarer, überhaupt tätig zu sein, entgegnet er: Es ist unmöglich, gänzlich untätig zu sein. Aber auch wenn das äußere Resultat das gleiche sein mag, so sind hier zwei Fälle zu differenzieren. Nur dann, wenn ich aus bewußter Entscheidung heraus ein Tun verweigere, liegt eine eigentliche Handlung vor. Wenn aus Unentschlossenheit heraus schlicht gar nichts zustandekommt, ist dies als ein Nichthandeln zu betrachten, das freilich auch zu verantworten ist. Untätigsein ist also theoretisch möglich, wenngleich man so nicht lebensfähig ist. - Im Begriff der lebensweltlichen Beobachtung (¢ÇtOÇF¿ O¿M¼nÇÑ) artikuliert sich: Zum Zeitpunkt der skeptischen Erfahrung, daß alle Wertungen fragwürdig sind, steht der Mensch mitten im Lebensvollzug, der ebenso biologisch wie durch eine historisch, geographisch, kulturell gewachsene Lebensform bedingt ist. Hier ist ein Leben ohne individuelle Wertsetzungen und Entscheidungen möglich gemäß einer Art Analogie zum Trägheitsgesetz: Ich brauche mich nicht zu entscheiden, sowohl wenn ich untätig bleiben, als auch wenn ich im gewohnheitsmäßigen Tun weitermachen will. Das Verhalten des Skeptikers ist so determiniert: 1.) durch eine natürliche Ausstattung mit Vermögen und Dispositionen, 2.) durch den Zwang körperbedingter Triebe und Emotionen, 3.) daß er sich so verhält, wie man es auf Grund gesellschaftlicher Konventionen und Traditionen von ihm erwartet und 4.) daß er eingeübte Kunstfertigkeiten ausübt. - In dem von diesen vier lebensweltlichen Determinanten gesteckten Rahmen erwächst der konkrete Entschluß durch die Phänomene, wie die augenblickliche Situation sinnlich auf mich wirkt. Soll so stets eine eindeutige Handlungsentscheidung zustandekommen, so dürfen gegensätzlich Ansprüche niemals zu einem unentscheidbaren Konflikt führen. Nun kommt es aber häufig zu einem Wertekonflikt zwischen den gesellschaftlichen Verhaltensnormen, die eine Affektbeherrschung verlangen, und den Affekten, die als das Ursprüngliche, Naturgegebene und daher möglichst uneingeschränkt zu Befriedigende erscheinen. Dieser Konflikt löst sich kaum ohne eigene Wertsetzungen von der Sache her. In pluralistischen Gesellschaften ist der einzelne in seiner unmittelbaren Lebenswelt mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontiert. Diese Verhaltensmaßstäbe legen ferner nur auf einen bestimmten Typ des Handelns fest. Das konkrete Handeln unter den spezifischen Bedingungen des Einzelfalls kann sehr wohl Entscheidungen erforderlich machen. Um undogmatisch zu sein, ist der Skeptiker gehalten, die zur Lebensfähigkeit erforderlichen Werteordnungen von anderen zu übernehmen. Die Skepsis ist damit eine nicht verallgemeinerungsfähige, parasitäre Position, die voraussetzt, daß es Nicht-Skeptiker gibt, die Werthierarchien aufstellen. Da der Skeptiker sich jeglichen eigenen kritischen Urteils begeben hat, muß er letztlich völlig passiv und außenbestimmt nach seiner biologischen Natur und dem Weltbild leben, in das er zufällig hineingeboren wurde. - Indem man alles gleichgültig werden läßt, erspart man sich sicher unnötige Sorgen. Aber zum Glück führt diese Haltung wohl nur, wenn niedere Güter zugunsten höherer gleichgültig werden. Es muß reichen, wenn ein solches höheres Glück, wengleich nicht unverlierbar, so doch eher autark ist als äußere Güter. Wer mit den Skeptikern alle Wertungen für gleichgültig erklärt, dürfte eher eine innere Leere bewirken als das Erfülltsein von Glück.
D. Die gemäßigte akademische Skepsis
Die akademischen Skeptiker schlossen zwar eine objektive Erkenntnis der Wahrheit aus, weil man nicht die Übereinstimmung der eigenen Vorstellungen mit den Vorstellungsgegenständen festzustellen vermag. Sehr wohl aber vermögen wir subjektiv, durch Vergleich der Bedingungen, unter denen eine Vorstellung zustandegekommen ist, mehr oder weniger verläßliche Vorstellungen voneinander zu differenzieren. Wir können über die Wahrscheinlichkeit urteilen.
Kap. 4: Plotin und
der Neuplatonismus
A. Geistesgeschichtliche Gründe der Wirksamkeit:
die objektiv analysierende und die subjektiv-mystische Tendenz
Der Neuplatonismus verdankt seine erstaunliche geistesgeschichtliche Wirksamkeit (von der christlichen Philosophie besonders der Kirchenväter über den Renaissancehumanismus bis hin zur Romantik und dem zeitlich wie geistig nahen Deutschen Idealismus) mehr noch als seinem Rang der Tatsache, daß er einem tiefen emotionalen Bedürfnis vieler Menschen entspricht, die neben scharfsinniger analytischer Rationalität die mystische Tendenz verspüren, sich zu vergöttlichen, d.h. durch alle Verfremdungen des Alltags hindurch zum wahren Selbst oder zum Göttlichen im eigenen Seelengrund vorzudringen und dieses mit seinem Ursprung in Gott zu vereinigen. Insbesondere entsprach der Neuplatonismus zwei charakteristischen Tendenzen seiner Zeit, dem Streben nach persönlicher Erfüllung (1) und der synkretistischen Neigung (2). Zu (1): Obgleich sich Plotin als getreuer Ausleger Platons fühlte, der die Quintessenz der bisherigen, zumal der Platonischen Philosophie explizit aussprach, hat er Platon um die öffentliche Dimension, d.h. das Bemühen, die Politik nach philosophischen Entwürfen zu gestalten, verkürzt. Plotin hat den schon im Hellenismus einsetzenden Rückzug auf das Private (die eigene Glückseligkeit) zu dem mystischen Absehen von allem Äußeren verschärft. Zu (2): Der Synkretismus im weiten Sinne, daß verschiedene Glaubensrichtungen und philosophische Weltbilder vermischt werden, hängt mit diesem Rückzug auf das Private zusammen. Wenn es keine verbindlichen öffentlichen Normen gibt, wählt der einzelne aus den weltanschaulichen Angeboten, zumal denen, die ihm individuelle Erlösung verheißen, das aus, von dem er sich die meiste persönliche Erfüllung verspricht. Schon bei Plotin läßt sich ein Interesse für fernöstliche Philosophie feststellen, der er, auch wenn keine tatsächlichen Einflüsse bestanden haben sollten, zumindest geistig nahestand. Plotin hat Anregungen aus vielen Richtungen der griechischen Philosophie aufgegriffen, neben platonischen und aristotelischen auch stoische (Lehre vom Logos als einer die Welt lenkenden Vorsehung), hat sie aber sehr originell durchdrungen und umgeformt im Sinne seiner Lehrers Ammonios Sakkas. Da dieser nicht bloß nichts geschrieben hat, sondern auch seinen Schülern im Sinne mystischer Geheimlehren die Pflicht auferlegt hat, über seine eigentlichen Auffassungen zu schweigen, ist nicht entscheidbar, wie weit bereits er die neuplatonischen Grundgedanken gehabt hat. Bei dem subjektiven, religiös-mystischen, wie bei dem objektiven, philosophischen, genauer metaphysisch-kosmologischen Zugang strebt Plotin nach dem Einen als dem allumfassenden, alle abgrenzenden Gegensätze übersteigenden Prinzip. Objektiv-ontologisch analysiert Plotin in der Begrifflichkeit der griechischen Philosophie die Seinsschichten (Hypostasen) und fragt in der Tradition der Kosmologien nach der obersten Ursache alles Erfahrbaren, versucht von dem beobachtbaren Vielen zum Einen aufzusteigen, ohne das es kein Seiendes, keine Vielheit geben könnte. Gemäß einem mystischen Erkenntnisgrundsatz wird Ähnliches von Ähnlichem erkannt. Um das göttliche Eine erfassen zu können, muß die Seele ihm daher ähnlich sein. Daher ist es letztlich nur ein anderer Aspekt desselben, daß der Mensch das Göttliche im eigenen Inneren findet. Dies verleiht dem Neuplatonismus einen eigenartigen Doppelcharakter. Er ist unbestreitbar eine Philosophie von großer gedanklicher Schärfe und analytischer Kraft. Sofern Philosophie jedoch von jedem nachzuvollziehende und überprüfbare Argumentationen vorzutragen hat, sind die Aussagen, die eine urpersönliche und daher nicht eigentlich mittelbare mystische Erfahrung voraussetzen, keine Philosophie. Kernbegriff von Plotins Metaphysik ist daher nicht, wie in Aristoteles’ Metaphysik, der die erfahrbare Wirklichkeit nüchtern und rational nach den allgemeinsten Merkmalen analysiert, das Seiende, sondern das Gute und Schöne, Begriffe also, die auch eine existentielle Erfüllung verheißen.
B. Aufgliederung des geistigen Bereichs
Ein Grundzug neuplatonischer Metaphysik ist, Hierarchien geistiger Entitäten zu entwickeln und dabei Dreigliederungen zu bevorzugen, die wie der Ternar: Sein, Leben, Denken die christlichen Trinitätsspekulationen angeregt haben und bis zu Hegels dialektischem Dreischritt fortgewirkt haben. Während Platon der sensiblen Welt insgesamt die Ideen als den intelligiblen Bereich gegenüberstellt, kennt Plotin rein geistige Hypostasen: Eines, Geist (Ideen), Seele. In einem Hervorgehen aus dem Einen, in dem die Einheit immer mehr zugunsten einer Vielheit schwindet, geht zuerst aus dem Einen der Geist (IÎôÑ) hervor, der sich selbst denkt und dabei als seine Bewußtseinsinhalte alle denkbaren intelligiblen Gehalte denkt, so daß er mit dem Reich der Ideen oder des Intelligiblen (FínHÎÑ IμOíÑ) gleichgesetzt werden kann. Vielfältiger sind die Einzelseelen und noch mannigfaltiger die materiellen Einzeldinge als das zuletzt aus dem Einen Hervorgegangene. Obgleich auch Geist und Seele bereits aus dem Einen hervorgegangen sind, wertet Plotin sie doch als Hypostasen, d.h. als Grundlegendes oder selbständig Bestehendes im Gegensatz zum Materiellen als abgeleitet Seiendem. Indem Platon das Höchste als Idee des Guten betrachtet, kennt er nicht wie Plotin ein über den Ideen stehendes Prinzip. Im Sonnengleichnis finden sich bei ihm freilich auch bereits die Ansätze der für den Neuplatonismus so charakteristischen negativen Theologie: Die höchste Ursache hat nicht die Bestimmungen des Verursachten; die Idee des Guten als Ursache des Seins steht selbst über dem Sein («L±FªÇI OÃÑ ÎnÇÑ). In diesem Sinne suchten die Neuplatoniker nach einer Ursache, die nicht mehr wie die von ihr verursachten Ideen einen bestimmten, unterscheidenden Inhalt hat, sondern als das Eine alle Gegensätze im ungeschiedenen Einen in sich befaßt. Plotins Nachfolger, zumal Jamblichos und Proklos, verstärkten nach die Tendenz, den Bereich des Geistigen in immer feinere Hierarchien aufzugliedern. So postulierten sie neben den denkbaren Gegenständen auch vielfältige denkende und rein geistige Wesen, so daß christliche Neuplatoniker (ab Pseudo-Dionysios Areopagita) ganze Engelhierarchien annahmen.
C. Die Emanationen aus dem Einen
Die einzelnen Seinsschichten Plotins lassen sich in aufsteigender oder in absteigender Reihenfolge darstellen. Der Aufstieg ist die Ordnung des Erkennens, das die erfahrene Vielfalt auf das Eine als Prinzip zurückführt. Für einen solchen Aufstieg kann Plotin sich auf Platons Symposion stützen. Im körperlich Schönen erfahren wir eine positive Bestimmtheit und insofern eine Fülle, aber zugleich einen Mangel. Dies ruft in uns einen Eros oder ein philosophisches Streben wach, zur Idee der Schönheit zu gelangen, zu dem, was wahrhaft schön ist. Während dieser Denkweg beim Einen - Guten endet, hört der Abstieg oder der Hervorgang des weniger Vollkommenen aus dem Prinzip als der ontologische Weg nicht bei der Materie als der untersten Stufe auf, sondern ist durch eine Rückwendung zum Ursprung konterkariert. Diese gegenläufigen Tendenzen herrschen nicht bloß im Ganzen, sondern sind für jedes einzelne Seiende konstitutiv, das ständig aus dem Einen hervorgehen muß und erst in seiner Hinwendung zu ihm sein eigentliches Sein findet. Aus dem Charakter des Einen als überströmender Fülle, als Wirkkraft, die es drängt sich zu entfalten, ergibt sich, daß es etwas aus sich hervorgehen läßt. Das Hervorgebrachte muß aber weniger vollkommen sein als sein Ursprung. Es kann weder von gleicher Art und Vollkommenheit sein, weil es sich so nicht unterschiede, noch vollkommener, weil eine Wirkung jede positive Bestimmung aus seinem Prinzip bezieht. Während der christliche Schöpfergott die materielle Welt unmittelbar erschaffen hat, geht die Körperwelt aus dem Einen - Guten nur in einem sukzessiven Prozeß hervor, in dem die Einheit immer mehr abnimmt und die Vielheit wächst. Bereits der zuerst hervorgegange Geist ist nicht mehr völlig eines, weil er mit dem Kosmos der von ihm gedachten Ideen identisch ist, die voneinander verschiedene intelligible Gehalte darstellen. Dennoch besitzt er eine höhere Einheit als die Seele (nächste Hypostase). Ihr diskursives Denken durchläuft nacheinander verschiedene Denkinhalte und setzt sie zusammen. Der Geist hingegen erfaßt im einzelnen in einer intuitiven Gesamtschau auf einmal das Gesamte, so wie nach Platons Lehre von der Einheit der Tugenden in der einzelnen Tugend die Gesamtheit der Tugenden greifbar wird. Die Seele vermittelt zwischen Geist und Körperwelt: An sich ein geistiges Vermögen fungiert die Einzelseele als Einheitsprinzip (Natur) der vielen Körperteile. Unterhalb des Körpers, der (wenngleich als Abbild) eine Form (Idee) und damit eine einheitliche Struktur aufweist, kommt die Materie, die als das völlig amorphe Substrat der Körper gänzlich zerstreut ist. Plotin schwankt, ob er die Materie als die letzte der aus dem Einen hervorgehenden immer vielfältigeren Formen betrachten soll, oder als Gegenwirklichkeit und Wurzel des Bösen. - Bei Metaphern wie der Emanation müssen unangemessene Konnotationen aus dem sensiblen Bereich ferngehalten werden. Da das aus dem Einen Ausfließende geistiger Natur ist, wird es durch dieses Ausströmen nicht wie eine körperliche Masse vermindert. Das Sich-nicht-Verströmen verdeutlicht Plotin an einer anderen Metapher: das Eine als Lichtquelle oder Sonne, die für die antike Kosmologie unveränderlich ist. Daran verdeutlicht er des weiteren das stufenweise Hervorgehen. Etwas braucht nicht zwingend von der Lichtquelle, sondern kann von einem Beleuchteten angestrahlt werden. Ferner zeigen die natürlichen Bilder (Schatten, Spiegelungen), die mit dem Licht zwangsläufig gegeben sind: Mit dem Einen - Guten sind auch Geist, Seele, Welt notwendig, wenngleich in einer abgeleiteten Notwendigkeit.
D. Das Eine
Wer eine Letztbegründung zu geben versucht, kann sich nicht mit einer immanenten, derselben Seinsstufe wie das Verursachte angehörenden Ursache zufriedengeben, sondern muß eine transzendente Ursache suchen. Das Höchste von der bisherigen Philosophie Angenommene: die Ideen (Platon) und der sich selbst denkende göttliche Geist (Aristoteles) werden von Plotin gleichgesetzt. Da der göttliche Geist wegen der vielfältigen Denkinhalte (Ideen) somit die Vielfalt der zu begründenden Sinneswelt nicht völlig transzendiert, muß er auf das vollkommen Eine oder schlechthin Einfache als letzte Ursache zurückgeführt werden. Das Eine muß daher die Bestimmungen des Geistes, das wahrhaft Erkennende zu sein, und die Bestimmungen der Ideen, das wahrhaft Seiende und wahrhaft Erkennbare zu sein, transzendieren. Erkennbar ist etwas nur in prädikativen Bestimmungen, die einen wohldefinierten, d.h. von anderen abgegrenzten Gehalt haben müssen. Dies widerstreitet dem Einen als dem Allumfassenden. Positive Aussagen können wir nur über die Rolle des Einen als allumfassendes Prinzip machen, weil diese Aussagen eigentlich über die Beziehung des Abhängigen zum Einen sprechen. Vom Einen selbst dürfen wir hingegen nur in Negationen sprechen. Diese dürfen freilich nicht im Sinne von „Omnis negatio est determinatio“ im Sinne der komplementären Bestimmung mißverstanden werden: Wenn vom göttlichen Einen als transzendenter Ursache von Denken die verursachte Bestimmung zu negieren ist, so ist es vernunftlos. Im überragenden und mit seiner unbedingten Einfachheit vereinbaren Sinne können die Neuplatoniker dem Einen doch positive Bestimmungen wie überragendes Denken zusprechen. - So wie der Kreismittelpunkt als unausgedehnt zwar keine geometrische Figur ist, aber als universaler Bezugspunkt, auf den jeder Teil der Kreislinie bezogen sein muß, überall in dem so konstituierten Kreis gegenwärtig ist, wird das als solches unerfaßbare Eine darin greifbar, daß der gesamte Kosmos darauf als auf seinen Ursprung bezogen ist; ähnlich wie das Gute als unbewußtes Ziel allem menschlichen Trachten zugrundeliegt.
E. Geist und Seele
Plotin begreift wie Aristoteles das vollkommene Erkennen als ein Sich-selber-Denken, wohl weil das Subjekt sich nur über einen in seinem Inneren gegebenen Denkgegenstand unbedingt gewiß sein kann. Der Geist ist aktiv-schöpferisches Prinzip, auch insofern er in den Ideen die Urbilder zum Gestalten aller Dinge in sich trägt. Das verleiht ihm eine größere Einheit gegenüber der Seele als dem passiv-rezeptiven Vermögen. Diese nimmt die verschiedenen Formen (Ideen) getrennt in sich auf, während sie im Geist als Ursprung in ungeschiedener Einheit sind, so wie jeder Satz einer Wissenschaft die Gesamtheit der Wissenschaft einschließt, von der allein aus er verstehbar ist. Die Einheitsmetaphysik des Platonismus schließt damit einen Holismus ein: Beim eigentlichen intuitiven Erkennen ist jede Idee eine besondere Weise, ein Modus des Gesamten. - Die Seele als Einzel- ebenso wie als Weltseele hat eine Mittlerrolle zwischen sensibler und geistiger Welt. Auch wenn sie nicht wie die Körperdinge in viele Teile auflösbar ist, weist sie doch in ihrem Bezug auf die Sinneswelt eine Vielheit (etwa von Vermögen) auf. Sie gibt die Einheit, die sie vom Geist als ihrem Ursprung empfangen hat, an die Körperdinge weiter, etwa indem sie diese gemäß den im Geist geschauten einheitlichen Ideen gestaltet. Aus der Zwischenstellung erwächst die ethische Aufgabe, sich schon während ihres Erdenlebens aus der Verstrickung an das Körperliche und Sinnliche zu lösen und wieder mit dem Guten als ihrem Ursprung zu vereinigen.
F. Materie und Körperwelt
und die Rückkehr
des Menschen aus ihr zu seinem Ursprung
Plotin sieht die Körperwelt zwiespältig. Einerseits weist sie als Abbild der geistigen Welt, aus der sie hervorgegangen ist und zu der sie hinführt, Einheit, vernünftige Gestaltung, Harmonie und Ordnung auf, zwar mangelhaft, aber so, daß sie als Abbild nicht vollkommener sein könnte. Zerstreutheit, blinde materielle Notwendigkeit, Widerstreit entgegengesetzter Kräfte und Chaos verweisen dagegen auf die Materie, der als bloßem Substrat oder nackter Grundlage der Körperwelt sämtliche Bestimmungen fehlen, die etwas zu einem sensiblen Körper machen. (Wahrnehmbar ist immer nur etwas Bestimmtes.) Neben der aristotelischen Substratsicht findet sich auch die gnostische Sicht der Materie als Wurzel alles Bösen. Obgleich Plotin sich als Interpret des genuin Platonischen gegenüber der Gnosis begreift, ist er doch einer dualistischen Zweiprinzipienlehre bedenklich nahe: Sowohl das Eine als Prinzip der geistigen Welt wie die Materie als Grundlage des Körperlichen sind aus sich heraus völlig unbestimmt und haben keine der Bestimmungen, die aus ihnen hervorgehen oder denen sie zugrundeliegen. Nur wenn man das Formende, Bestimmungsgebende als eigentlich wirklich betrachtet, kann man ihm die zu formende Materie gegenüberstellen, ohne dualistisch ein Gegenprinzip anzusetzen. - Einen Dualismus vermeidet Plotin folglich da, wo er nicht mit dem Begriff eines absolut Einfachen, sondern der platonisch-aristotelischen Konzeption der Form arbeitet. Indem er das Schöne in I 6 als voll entfaltete Form bestimmt, wenn der Stoff vollständig von der Form geprägt ist, braucht er das Häßliche nicht als eine Art Gegenform zu bestimmen, sondern als ein Zurückbleiben, wenn etwas die ihm mögliche und gebührende Form nicht erreicht. Form meint hier nicht bloß ästhetisch die sichtbare Gestalt, sondern auch ontologisch das bestimmende Prinzip. Deshalb kann Plotin Seiendes und Schönes als konvertible Transzendentalien behandeln: Der ontologische Rang eines Seienden entspricht der ästhetischen Qualität als Schönes. Weil der Seinsrang somit einen Wert darstellt, ist etwas in dem Maße, wie es seiend oder schön ist, auch erstrebenswert. Daher kann die ästhetische Erfahrung auch einen ontologischen Aufstieg anregen, daß sich der Mensch dem eigenen Inneren zuwendet. Denn wenn er die Form der Schönheit uneigentlich über die Vielheit körperlicher Teile verstreut erblickt, bezieht er sie auf die in der Seele gedachte Form als Maßstab, die er anläßlich der Wahrnehmung erinnert. Weil ferner die Seele Form ist im Sinne eines ontologischen Prinzips, das den Menschen in seinem Menschsein begründet, wird die Seele sich anläßllich der wahrgenommenen voll ausgeprägten Form des Schönen zugleich ihrer eigenen Würde als Form bewußt. Diese Verinnerlichung ist der erste Schritt eines ontologischen Aufstiegs, der sich in drei Stufen vollzieht. Die erste Stufe der ethischen Läuterung führt von der Körperwelt zum eigenen Inneren. Denn da Ähnliches von Ähnlichem erkannt wird, findet der Mensch das Eine (den Ursprung) nicht im Äußeren, sondern in sich selbst, indem er sich ihm angleicht. Die Flucht ins eigene Innere heißt nicht, daß man die Welt äußerlich verläßt, sondern daß man sich innerlich von ihrem Ungeist entfernt durch Tugenden, die durchaus ein positives Gestalten der Welt einschließen (gegen die Gnostiker). Die zweite Stufe, die dianoetische Läuterung, führt von der Seele und ihrem diskursiven Hin- und Hererörtern zum intuitiven Erfassen des Geistes. Aber nicht durch Betrachtung (Theorie) wie bei Aristoteles, sondern erst in der Ekstase, indem der Mensch aus sich heraustritt, gelangt er auf der dritten Stufe zu seinem Ziel, das Eine zu berühren.
Teil II:
Die christliche Philosophie in der
ausgehenden Antike
Kap. 1: Aurelius Augustinus
A. Einheit von philosophischer Wahrheitsliebe und christlicher Gottsuche
Bei Augustinus sind christlicher Glaube und philosophische Vernunft keine eigenständigen Größen, die nachträglich eine Ehe eingehen und deren Wechselbeziehungen problematisch bleiben. Philosophische Wahrheitssuche (Liebe zur Weisheit) und glaubende Gottsuche sind letztlich zwei Aspekte desselben, nämlich des Weges zu einem erfüllten, glücklichen Leben, das nur in der Erkenntnis der Wahrheit und damit Gottes liegen kann, der sich als Weg, Wahrheit und Leben geoffenbart hat. Wenn Augustinus sein Leben in den Confessiones exemplarisch als ein rastloses Streben nach Gott begreift, so ist auch auf den Irrwegen Gott als Ziel, auf das hin der Mensch erschaffen wurde, gegenwärtig. Auch in den philosophischen Wahrheiten hat er unausdrücklich bereits Gott gesucht. Wahrheit ist für Augustin kein abstrakter logischer Begriff, hinter ihr steht vielmehr ein personaler Gott, der in seiner Ewigkeit die zeitunabhängige, unwandelbare Geltung garantiert. Augustin hat sehr wohl in den Soliloquien gesehen: Auch vom Vergänglichen, Veränderlichen als Inhalt (daß die Welt vergeht) kann es Wahrheit als eine unveränderliche Geltung geben. Da etwas aber nicht ohne Wahrheit und damit ohne Gott wahr sein kann, kann es, so wie Gott als Quelle der Wahrheit aller Zeit enthoben ist, auch nur vom schlechthin Zeitlosen Wissen und Wahrheit im strengen Sinn geben. Daher fordert Augustin nicht bloß, das Wahre müsse ein und für allemal gelten (was auch bei zeitindizierten Erfahrungstatsachen möglich ist), sondern auch, es müsse sich auf zeitlose intelligible Inhalte beziehen: die Ideen, die als Gottes Gedanken die unwandelbaren Urbilder des zeitlichen Geschehens sind. - Wie verträgt sich mit der platonischen Beschränkung des eigentlich Wahrheitsfähigen auf das Unveränderliche die große Bedeutung, die das Geschichtliche, die eigene Lebensgeschichte (Confessiones) und die Menschheitsgeschichte (Gottesstaat) bei ihm hat? Augustin hat nicht bloß theoretisch Bedeutsames zum geschichtsorientierten Denken beigetragen. Sein eigenes Leben und Werk verkörpert das rastlose Suchen, das erst jenseits des Lebens in Gott Ruhe findet. Daher läßt sich aus Augustins Schriften kein kohärentes System der Theologie oder Philosophie konstruieren. Sie sind vielmehr aus der jeweiligen Lebenssituation heraus zu verstehen. Die Frühschriften wollen z.B. zeigen, daß ein wohlverstandener Glaube durchaus den Maßstäben der antiken Denker an Vernünftigkeit genügt. Spätschriften, die einem kirchenpolitischen Kampf gegen Häretiker erwachsen sind, legen mehr Wert auf wirkungsvoll zugespitzte Formulierungen der Position als auf ausgewogene Differenzierungen. Das geschichtliche Denken ist insofern mit dem Platonismus vereinbar, als Augustin die Geschichte teleologisch und sub specie aeterni als Entfaltung ewiger Urbilder und Streben nach ewigen Wahrheiten betrachtet. So kann Augustin den Glauben als Vorbedingung echten Wissens ansehen. Eine Wißbegier, die wahllos nach beliebigen Informationen giert (zumal über empirische Fakten), ist für Augustin nur eitle Neugier (supervacanea curiositas), die von zentralen Wahrheiten ablenkt. Wesentliches, existentiell bedeutsames Wissen, sich etwa seiner Lage als Mensch bewußt zu werden, verlangt die Rückkehr zu sich selbst, um im eigenen Inneren das Göttliche oder gleichbedeutend die Wahrheit zu finden. Optimistisch glaubt der frühe Augustin noch an die Möglichkeit einer Selbsttranszendenz, daß der Mensch das Niedere, dem wandelbar Sinnlichen Verfallene aus eigenen Kräften durch sein besseres Selbst, die vernünftige Seele, zu transzendieren vermöge. Ziel ist freilich nicht das Ich, sondern Gott, der im Sinne der Illuminationstheorie das Erleuchtende oder die Quelle aller Erkenntnis ist - Augustin hat in einer Zeit politischen wie geistigen Umbruchs die festen Fundamente einer christlichen Philosophie des Mittelalters geschaffen.
B. Stadien der geistigen Entwicklung Augustins
An den lateinischen Klassikern, zumal (als Lehrer der Rhetorik) an Cicero geschult, wurde der junge Augustinus von einem Studium der Bibel dadurch abgeschreckt, daß er in ihr das gesuchte intellektuelle Niveau, zumal den sprachlich-rhetorischen Rang Ciceros, vermißte. Auch webb Ciceros Hortensius, eine protreptische Schrift, in ihm die Weisheitsliebe erweckte, vermochte sie ihn doch nur ästhetisch zu befriedigen, er vermißte in ihr substantielle Antworten auf sein drängendes Suchen oder (wie er aus später Perspektive sagte) Christus. Die Manichäer schienen ihn formal wie inhaltlich befriedigen zu können, indem sie ihre synkretisch-gnostische Lehre (Selbsterlösung durch höhere Erkenntnis) als das bessere Christentum präsentierten. Seinen inneren Widerstreit fand er hier dualistisch als einen kosmischen Kampf eines lichten, guten und eines finsteren, materiellen Prinzips dargestellt. Weil die Manichäer aber seine Bedenken darüber nicht zu zerstreuen vermochten u.a. darüber, daß sie Gott und Seele aus einer subtilen, lichten Materie bestehen ließen, fiel er in eine Haltung des Skeptizismus oder ästhetischen Nihilismus zurück, wie er sie aus Cicero kannte, der den Mangel an substantiellen inhaltlichen Entscheidungen durch eine glälnzende rhetorische Form auszugleichen versuchte. Die Durchgangsstadien Manichäismus und Skeptizismus hinterließen bei Augustinus aber ihre Spuren. Auch nach Überwindung des Dualismus hat das Körperliche für ihn keinen Eigenwert, sondern soll überwunden werden und zum Geistigen hinführen. Der Möglichkeit, objektive Wahrheiten zu erkennen, versuchte er sich lebenslang dadurch zu vergewissern, daß er skeptische Einwände argumentativ widerlegte und dabei Descartes’ berühmtes Argument vorwegnahm: Auch wenn ich mich täusche, so kann ich mich darüber nicht täuschen, daß der mentale Akte des Sichtäuschens stattfindet und daß ich somit als das Subjekt des Sichtäuschens existiere. Daher habe ich zumindest in diesem einen Punkt sicheres Wissen und weiß auch reflexiv darum. Angesichts der Einheit von fides und ratio ist es folgerichtig, daß Augustinus sich ineins dem christlichen Glauben und der neuplatonischen Philosophie zuwandte. Schon Ambrosius, dessen formal glänzende Predigten Augustin beeindruckten, deutete das Christentum neuplatonisch, z.T. las er die Bibel allegorisch. Bis zum Hochmittelalter war man allgemein überzeugt, der Platonismus sei die Philosophie, die dem Christentum am ehesten entspreche. Anders als bei den Manichäern konnte Augustin die drei Hypostasen (bei ihm: Gott, Ideen, Seele) nur rein geistig verstehen, und er brauchte das Schlechte nicht mehr dualistisch als Gegenprinzip aufzufassen, sondern konnte es als Seinsmangel (Aprivatio entis) interpretieren, daß etwas die seiner Art mögliche und gebührende Vollkommenheit (Seinsfülle) nicht erreicht. - Dieser intellektuelle Durchbruch mußte sich - so war Augustinus überzeugt - in einer asketischen Lebensweise manifestieren. Augustin erfuhr hier einen Willenszwiespalt, daß neue Leben einerseits zu wollen, es aber wegen einer Willensschwäche doch nicht so entschieden intensiv zu wollen, wie er es sich eigentlich wünschte. (Durch Beachten solcher Willensphänomene bereitete Augustinus den Voluntarismus vor.) Als Bischof mußte er sich vor allem mit Donatisten und Pelagianern auseinandersetzen. Die Donatisten verfochten - typisch für viele Sekten - das Ideal von einer besonders heiligen und reinen Kirche und verbanden dies mit schwärmerischen sozialrevolutionären Ideen. Der pelagianische Auffassung, jeder Mensch könne sich in seinem freien und nicht von der Erbschuld korrumpierten Willen von sich aus für das Gute entscheiden, stellt Augustin eine an Paulus orientierte Gnadentheologie entgegen: Der wegen der Erbsünde von sich aus des Guten unfähige Mensch wird allein durch Gottes freie Gnadenwahl gerechtfertigt.
C. Zeit als erlebte Zeit
Augustins ausführliche Darstellung seiner geistigen Entwicklung in den Confessiones will nicht die biographische Neugier mit empirischen Fakten über sein Leben befriedigen, sondern stellt exemplarisch die conditio humana dar. Sie ist zugleich Schuldbekenntnis, da jeder Mensch angesichts der absoluten Maßstäbe Gottes schuldig wird, und Lobpreis für Gottes Gnadenerweise im Leben. Im Sinne des christlichen Individualismus ist das Leben des Einzelmenschen als eines Einzelnen vor Gott wertvoll, ist nach spezifischen Begriffen zu betrachten und ist nicht bloß wie für die griechische Antike Exemplifikation eines allgemeinen Musters. - Die objektive physikalische Zeit, die an beobachtbaren Bewegungsabläufen festgemacht wird, und diese in frühere und spätere Phasen zu gliedern und zu messen gestattet (Aristoteles), ist für Augustin problematisch. Das Vergangene als das nicht mehr Seiende und das Künftige als das noch nicht Seiende sind nicht wirklich. Die Gegenwart aber im strengen Sinne des Jetztpunktes ist als unausgedehnt auch kein konstituierender Bestandteil einer zeitlichen Erstreckung, sondern grenzt Vergangenes und Künftiges gegeneinander ab. Auch bei der subjektiven, erlebten Zeit scheint das Jetzt ein Punkt des Umschlags, wo das (als künftig, noch ausstehend) Erwartete zum (als vergangen) Erinnerten wird. Hier gibt es aber drei gleichberechtigte mentale Einstellungen zum Geschehen: Ich erinnere etwas als geschehen (memoria), ich erlebe etwas als sich gerade vollziehend (contuitus) und ich erwarte ein künftiges Geschehen (expectatio). Hier sind alle drei Zeitstufen gegenwärtig und damit real: Das Vergangene wird von der mentalen Fähigkeit des Repräsentierens dem Vergessen entrissen und wieder gegenwärtig gemacht oder fortdauernd gegenwärtig gehalten (Retention). Indem ich mich auf das Künftige vorwärts richte (Protention), hole ich es vorwegnehmend in die Gegenwart hinein. Auch erfahre ich das augenblickliche Ereignis nicht punktuell (so könnte ich nie einen Geschehensablauf erfahren oder mein Sprechen von Sätzen kontrollieren), sondern auf dem Hintergrund des erinnernd festgehaltenen Vergangenen und im Hinblick auf das erwartete Künftige. In der Tradition von Platon und Plotin muß Augustins Zeitbegriff in der Spannung von Ewigkeit und Zeit gesehen werden. Augustinus faßt wie Platon die Zeit als etwas Geschaffenes auf. Platon begreift die Zeit als ein zahlenmäßig fortschreitendes (also kosmische Bewegungen messendes) Abbild der in einem verharrenden Ewigkeit. Damit kann die Ewigkeit (aeternitas) als das Urbild für die platonische Tradition nicht bloß eine unbegrenzte zeitliche Dauer (sempiternitas) sein. Da Ewigkeit keine Zeitlichkeit voraussetzen darf, muß sie vielmehr allem wandel und Nacheinander enthoben, die gesamte Seinsfülle (die Gesamtheit der Inhalte) auf einmal in unveränderlicher, sich stets identisch bleibender Gegenwart umfassen (Boethius: totum simul praesens). Was im physischen Geschehensablauf eine zeitliche Sukzession verschiedener Momente ist, die zueinander in einem Verursachungsverhältnis stehen, schaut Gott als eine gleichzeitige Gesamtheit zusammen, deren Momente sich inhaltlich bedingen. Dem sogleich wieder vergehenden zeitlichen Jetzt steht das verharrende Jetzt (nunc stans) der ewigen Gegenwart gegenüber (im höchsten Glück scheint die Zeit still zu stehen). Auch die Gegenwart ist nur im Bewußtsein wirklich präsent, sofern nur das bleibend Gegenwärtige (Vorhandene) wirklich gegenwärtig ist, das Physische aber sogleich vergeht. Daher bedarf es der repraesentatio, des Wiedervergegenwärtigens von Vergangenem oder allgemeiner des Sich-gegenwärtig-Machens (jeder Zeitstufe), indem man sie sich geistig vorstellt. Die subjektiv erfahrene Zeit steht in einer Spannung von Zeitlichkeit und Ewigkeit. Als etwas sich Erstreckendes, Ausdehnendes, wie sie es in ihrem Begriff verlangt, ist die Zeit nur im Bewußtsein gegenwärtig und ist insofern distentio animi. Sofern das Bewußtsein durch drei verschieden gerichtete Einstellungen drei Zeitstufen, die im realen Geschehensablauf getrennt sind, in einem einzigen Augenblick zu vereinigen vermag, hat es bereits ein Moment der Ewigkeit.
D. Die Analyse des Geistes erhellt Gottes Existenz und Dreieinigkeit.
Während Descartes zum Ziel hat, ein menschliches Erkennen in zweifelsfreier Gewißheit zu begründen, ist für Augustinus Gott das Ziel sowohl der theoretischen Erkenntnisbemühungen wie des praktischen Glücksstrebens; die philosphische Bewußtseinsanalyse ist nur Mittel. Da für Augustinus Gottes Existenz eigentlich stets gewiß war, geht es ihm nicht bloß um das nackte Daß, sondern vielmehr darum zu klären, was für ein Gott dies sei, an den wir glauben. Der Gottesbeweis in de libero arbitrio II bestimmt Gott als unwandelbare Wahrheit. Da unser Geist etwa bei den Zahlen eine zeitunabhängige Geltung zu erfassen vermag, diese aber nicht in den schwankenden und unbeständigen subjektiven Denkakten begründet sein kann, verweist unsere Vernunft über sich selbst hinaus auf eine unwandelbare Wahrheit, die vergleichbar dem Licht jegliches Erkennen intelligibler Gegenstände erst möglich macht. Augustinus vergegenständlicht nicht einfach vorschnell die Wahrheit. Noch Frege und Husserl betoönen gegen den Psychologismus, daß sich die logische und mathematische Geltung nicht auf die subjektiven Gesetze des Denkens reduzieren läßt, sondern objektiv in etwas unabhängig Vorgegebenem fundiert sein muß. - Besonders bei den Trinitätsspekulationen wird deutlich, daß Augustinus keine voraussetzungslose rein philosophische Gotteslehre betreiben will, sondern das Geglaubte rational auf seine Einsichtigkeit nach menschlichen Denkmaßstäben hin zu durchleuchten versucht. Allein wenn man die göttliche Dreieinigkeit als Urbild zugrundelegt, vermag man überall in der Schöpfung, namentlich im Geist Dreierstrukturen zu entdecken, die als Abbild oder Spuren auf die göttliche Trinität verweisen. Die verschiedenen Ternare Augustins folgen alle dem Aufbau 1.) grundlegendes Vermögen, 2.) kognitives Vermögen des Erkennens, 3.) Vermögen des Wollens oder Liebens. Angesichts der Rückbezüglichkeit des Geistes sind diese verschiedenen Vermögen (trotz ihrer inhaltlichen Eigenständigkeit als subsistierender Relationen) nur im Beziehungsgefüge das, was sie sind, und bilden insofern eine Einheit.
E. Erfahren und Wollen
Trotz seiner Hinwendung zum subjektiv Erfahrenen geht es Augustinus um überzeitliche, objektive Erkenntnis, deren subjektive Bedingungen er erforscht. Aus den flüchtigen Augenblickseindrücken käme keine Erfahrungserkenntnis zustande, wäre das Gedächtnis nicht fähig, Spuren vergangener Eindrücke als Vorstellungsbilder (imagines) zurückzuhalten oder vorstellend Künftiges zu antizipieren. Allein so vermag ich das unmittelbar Erlebte in einen Geschehensablauf einzuordnen und durch Vergleich von Gleichartigem zu Erfahrungserkenntnis zu gelangen. - Schon Platon verstand in seiner !I#HI¼nÇÑ-Lehre das Erkennen intelligibler Gegenstände in einem Wechselspiel von Vergessen (kein aktuelles Wissen) und Erinnern (anläßlich von Sinnesdingen, die an Ideen zu messen sind). Augustinus mußte als Christ eine andere Erklärung suchen, da er keine Präexistenz der Seele annahm. Im De magistro glaubt er, Sprache könne nicht ursprünglich als Erkenntnisquelle Einsichten vermitteln, sondern setze ein unmittelbares Vertrautsein mit den zu bezeichnenden Gegenständen voraus, durch Sinneswahrnehmung oder durch Christus als den inneren Lehrer. Augustinus begreift hier das Intelligible zu gegenständlich, als liege es immer schon vor und bedürfe nur der Erleuchtung (illuminatio) durch die von Gott ausgehende Wahrheit, um für die geistige Sehkraft aktuell erkennbar zu werden. - Da das Seiende stets aus dem (Noch-)Nichtsein hervorgeht und ins Nicht-(mehr-)Sein zurücksinkt, bedarf es einer Erschaffung aus dem Nichts. Damit setzt sich Augustinus sowohl von Platon ab, nach dem Gott bloß eine chaotische Materie gestaltet hat, wie auch von Platons Emanationslehre. Wenn das Weltgeschehen aus einem notwendigen Prinzip notwendig hervorgegangen ist, so muß es selbst notwendig determiniert sein. Nur wenn Gott sich frei zur Schöpfung entschlossen hat, ist in ihr Kontingenz und Freiheit möglich. - Die Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium) des Willens ist für Augustinus zentral. Er geht von der Reflexivität des Willens aus, daß wir durch unseren Willen das Wollen selbst beeinflussen können. Lebenslang hat er die formale Fähigkeit des Willens nicht bestritten zu bestimmen, ob ein Willensakt stattfindet oder nicht. Da ein Wille nun aber wesentlich auf inhaltliche Ziele gerichtet ist, stellt sich die weitergehende Frage, ob er auch die Grundausrichtung des Willens selbst bestimmen kann. Dies ist nicht im Sinne eines blanken Voluntarismus zu verstehen, als könne der Wille ohne sachliche Vorgaben die eigenen Grundwerte setzen und einen Lebensentwurf wählen, der von außen nicht zu kritisieren ist. Vielmehr nimmt Augustinus im Sinne des Platonismus eine objektive Wertordnung an. Die Entscheidung des Willens bezieht sich folglich auf die Alternative, ob er in Gottesliebe (amor Dei) den Werten gegenüber die sachlich gegebene Einstellung einnehmen will, die Güter nach ihrem sachlichen Wert zu lieben, oder oöb er die Werteordnung in Eigenliebe (amor sui) pervertiert. Wer nur seinen persönlichen Vorteil in trügerischen vergänglichen Gütern sucht (auch im Stolz über eigene geistige Fähigkeiten), der versklavt sich der eigenen Begehrlichkeit (concupiscentia), die hier nie dauernd befriedigt werden kann, so daß immer neue Begierden entstehen. Eine endgültige Erfülllung findet der Mensch nur in der Gottesliebe: Genießen (frui) oder um seiner selbst willen schätzen kann man letztlich nur Gott, während die vergänglichen irdischen Güter nur als Mittel um der höheren Ziele willen zu gebrauchen (uti) sind. Damit vermag Augustinus die Wurzel des Bösen (ohne manichäistisch ein böses Prinzip anzunehmen) im freien Willen anzusetzen, der sich in seiner Ausrichtung verkehrt. Die Implikation der Umkehr, daß der Mensch von sich aus des Rechten fähig ist, bekämpft Augustinus später in seiner Auseinandersetzung mit dem Platonismus. Wohl um das Faktum zu erklären, daß sich bei den Menschen ein gewisser Hang zur Selbstliebe, ein Verfallensein an das Böse beobachten läßt, entwickelte er die Erbsündenlehre. Die in Adam schuldig gewordenen Menschen sind nicht bloß faktisch schlecht, sondern aus sich heraus eines guten Willens (bona voluntas), dem Anruf Gottes zu folgen, unfähig. In einer freien, unbegreiflichen Gnadenwahl erlöst Gott einige aus der großen Zahl der Verdammten.
F. Civitas Dei und civitas terrena: Augustins teleologische Geschichtsbetrachtung
Durch Gottesliebe und Selbstliebe definiert Augustinus auch Gottesstaat
(civitas Dei) und Weltstaat (civitas terrena). Beide sind eher archetypische
Formen einer Gemeinschaft vernünftiger, freier Wesen, als daß sie mit
konkreten, historischen Gemeinschaften (Kirche, Staat) gleichzusetzen wären.
Sofern die konkreten, weltlichen Staaten formal betrachtet Zusammenschluß
um eines gemeinsamen Zieles willen sind, der die Menschen befriedet und
rechtlich ordnet, helfen sie die Selbstliebe zu überwinden, wenngleich das Ziel
von seinem Inhalt her: materieller Nutzen weltlich egoistisch ist. - Indem
Augustinus im christlichen Heilsgeschehen die Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit
der entscheidenden geschichtlichen Ereignisse sowie die Endgültigkeit des
daraus Resultierenden sah, ersetzte er die zyklische Geschichtsauffassung der
heidnischen Antike durch eine teleologische, eschatologische Sicht: Die
Geschichte strebt auf ein Ziel zu, mit dem sie endet, das damit schon außerhalb
der Geschichte liegt. Sie hat damit einen letzten, außerweltlichen Sinn.Auch
die antiken Philosophen haben indes zugestanden, daß die Menschen zumindest
individuell dem Ziel der Glückseligkeit zustreben. Die endgültige Erfüllung,
die das wahre Glück von seinem Begriff her fordert, aber wird unmöglich
gemacht, wenn der Mensch im Kreislauf der Wiedergeburten zwangsläufig dazu verdammt
ist, ins alte Elend zurückzusinken. Auch Augustins Zeitbegriff hängt damit
zusammen: Die subjektiv erlebte Zeit ist linear, da das Bewußtsein
intentional, gerichtet ist. Die objektive, physikalische Zeit wird demgegenüber
an den Gestirnsumläufen und den durch sie bedingten Naturkreisläufen
(Wechsel der Tages- und Jahreszeiten) gemessen.