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  Zusammenfassung

 

Philosophie des Hellenismus, der Spätantike und Patristik

 

 

Teil I:

Von den hellenistischen Philosophenschulen bis zur Spätantike

 

Kap. 1: Epikur und die Epikureer

 

A.  Allgemeine Charakteristik der hellenistischen Philosophie

 

            Im Hellenismus suchte das ungebundene Individuum seine persönliche Glück­selig­­keit, weil mit der Polis nicht bloß ein fester politischer Rahmen, sondern auch eine all­gemeinverbindliche Werteordnung zerbrochen war. Der Werterelativismus wurde noch dadurch gefördert, daß man durch die Entdeckungen Alexanders fremde Kulturen kennen­lernte. Die platonische und aristotelische Metaphysik zerfiel in ihren Schulen. Platons Dialektik artete zu haarspalterischen Disputen aus, und die von Aristoteles ver­tre­­tene methodische Eigenständigkeit der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen führte zu bloßer Einzelwissenschaft ohne eine übergreifende erste Philosophie. Daher setzten sich Philosophenschulen durch, die unmittelbar auf Sokrates’ Bemühen um ethische Fragen zurückgehen. Aristipps Gleichsetzung des höchsten Gutes mit der Lust ist die Wur­­zel des Epikureismus. Von Antisthenes’ These, zur Glückseligkeit reiche die allein von der indi­viduellen Charakterstärke abhängige Tugend, führt ein direkter Weg zur Stoa. Die Kyni­ker provozierten in ihrer Bedürfnislosigkeit die gesellschaftlichen Normen als etwas bloß konventionell Geltendes, daher Widernatürliches (sophistische Unter­scheidung).

 

 

B. Epikurs Erkenntnislehre (Kanonik)

 

            Wie in fast allen hellenistischen Philosophenschulen steht bei Epikur die Ethik im Mittel­punkt, die nicht als Lehre von einem pflichtgemäßen Handeln, sondern von einem gelun­­genen Leben verstanden wurde. Ihr dienen die beiden anderen philosophischen Dis­zi­pli­nen. Die Physik soll von der abergläubischen Furcht vor Göttern und Tod befreien, die sensualistische Erkenntnistheorie die These stützen, daß das Gute letztlich etwas sinn­­lich Erfahrbares, nämlich Lustempfindung sein müsse. Auf Sinnliches verweisen alle drei Wahr­heitskriterien: die unmittelbaren Wahrnehmungen, die Vorbegriffe, wenn ich in einem Allgemeinbegriff von einer bestimmten Art von Wahrnehmbarem die Einzelwahr­nehmung vorwegnehme, und die Affekte oder Empfindungen, die den praktischen Wert­­­urtei­len zugrundeliegen. Der Epikureismus ist keine Philosophie höchsten Ranges mehr, sondern hat teilweise die Züge einer philosophisch-wissenschaftlich verbrämten Heilslehre. Daher zollten die Anhänger Epikur geradezu abgöttische Verehrung und wichen sektiererisch nicht vom Wortlaut ihres Meisters ab. So finden sich denn auch zahl­­reiche nachweisliche Irrtümer bei den Epikureern, etwa in der These, Sinneserfah­rung sei unwiderlegbar, da wir unverfälscht einen Sinneseindruck (z.B. ein feines atoma­res Bildchen) vom Gegenstand selbst empfangen. Diese These verkennt, daß unmittelbar rezipierte Sinneseindrücke im Erkenntnisprozeß überhaupt nicht als eigenständige Größen auftreten, sondern unsere Gegenstandserfahrung immer schon im Lichte unserer Wahrnehmungsgewohnheiten interpretiert ist.

 

 

C. Die epikureische Physik

 

Epikurs Physik erweitert die materialistische Atomtheorie von Demokrit und Leukipp in mindestens zwei Punkten. 1.) Gegen Aristoteles, für den das räumlich Ausgedehnte,  wenn man es als solches oder als mathematische Abstraktion auffaßt, beliebig teilbar ist, nimmt Epikur auch ein mathematisch Unteilbares an. Da diese kleinsten Raumeinheiten alle gleichgestaltig sind, können sie nicht die Grundbausteine der Wirklichkeit sein, die verschiedene Gestalten haben müssen. Deshalb umfassen die physischen Atome mathe­ma­tische als ihre Teile, sind aber insofern real unteilbar, als sie jene kompakte Materie ohne Vakuum darstellen. Lukrez’ Argument für die mathematische Unteilbarkeit, alles müßte sonst unendlich viele ausgedehnte Teile umfassen und wäre so unendlich groß, ist ein krasses Mißverständnis des Infinitesimalen. 2.) Weiter nahm Epikur anders als Demo­krit an: Eine zufällige kleine Abweichung von der geradlinigen und gleich schnellen Abwärtsbewegung der Atome sei Ursache dafür, daß die Atome zusammenstoßen und so in jene Bewegungen und Wechselwirkungen geraten, aus denen Atomverbände und all­mäh­lich die gesamte erfahrbare Welt entstanden ist. Auch wenn wir einen akausalen Zufall als möglich einräumen - eine Annahme, durch die Epikur gegen den stoischen Deter­minismus die Freiheit aufrechtzuerhalten versuchte -, so ist es doch wenig plausibel, daß ein bloßes Willkürereignis die unerläßliche Bedingung für das Ent­stehen der Körpe­welt mit ihrem im wesentlichen regelmäßigen Geschehen sein soll. - Das Postulat sinnlich nicht wahrnehmbarer Atome widerstreitet nicht Epikurs sensualisti­scher Erkenntnistheo­rie. Denn er gestattet auch Aussagen über nicht Wahrnehmbares, sofern sie von den Beob­achtungstatsachen nicht widerlegt werden. Er rechnet dabei mit mehre­ren gleichbe­rech­tig­ten Erklärungen, die gleichermaßen mit der zu erklärenden Beobach­tungstatsache übereinstimmen. Aber daß sich im unendlichen leeren Raum unendlich viele Atome bewegen, betrachtet er wohl als einzige Erklärung der Bewegungsphänome­ne.

 

 

D. Epikurs hedonistische Ethik

 

Jeder Mensch, ja jedes Lebewesen setzt unmittelbar und von Natur aus das Lustvolle mit dem Guten und zu Erstrebenden, das Schmerzliche aber mit dem Schlechten gleich. Im Sinne eines Lustkalküls kann der Mensch freilich auf gegenwärtige Genüsse verzichten oder sogar Schmerzen auf sich nehmen, um insgesamt ein Höchstmaß an Lust genießen zu können und den Schmerz zu minimieren. Charakteristisch für Epikurs Hedonismus ist, daß er keinen neutralen Zwischenzustand kennt, der weder lustvoll noch schmerzlich ist, vielmehr sei das Höchstmaß an Lust bereits erreicht, wenn alles Schmerzliche beseitigt sei. Man kann Epikur recht geben, daß man die Lustempfindung nicht wie Platon an einen Vorgang (Wiederherstellung des naturgemäßen Zustandes) zu binden braucht, da jemand auch das Befreitsein von Schmerzen und Sorgen als lustvoll empfinden kann. Gesundheit kann in der Tat als Fehlen jeglicher krankhafter Störungen aufgefaßt werden. Aber bei Lust und Schmerz als subjektiven Erlebnissen verhält es sich anders als bei den objektiv feststellbaren Körperzuständen. Ein völlig schmerz- und sorgenfreier Zustand, der aber ohne jeden positiven Sinnesreiz und freudige Erfahrungen ist, kann nach langer Krankheit und drückenden Sorgen angenehm empfunden werden, er kann einen bei lan­ger, gleichmäßiger Dauer aber auch anöden. Dies ist genau das Indiz für einen neutralen, an sich indifferenten Zwischenzustand, daß er je nach Umständen so oder ent­gegen­ge­setzt sein kann. Hieraus leitet Epikur als Lebensideal ab, daß ein äußerlich bescheidenes, zurückgezogenes, seelisch ungestörtes Leben zu erstreben sei. Wer die natürlichen und not­­wendigen Begierden nach Nahrung usw., deren Nichtbefriedigung Schmerz und Un­lust bedeutete, auf einfachste Weise erfüllt, hat bereits die Höchstgrenze des Angeneh­men erreicht. Die weder natürlichen noch notwendigen Begierden nach ausgesuchten Delikatessen, eleganter Kleidung oder nach politischem Einfluß, um das Leben zu sichern, können die Lust nicht mehr steigern und gefährden nur die seelische Ausgegli­chen­heit. Seelische Freude und Leid sind zwar auf körperliche Empfindungen zurückzu­führen (als deren Erwartung oder Erinnerung), sie können aber gewichtiger sein, da sie alle Zeitdimensionen umfassen. So bedarf es auch geistiger Güter: Philosophische Ein­sicht soll durch den Gedanken vor Todesfurcht bewahren, daß Gutes und Übles nur in der Empfindung bestehen, der Tod als Auflösung von Leib und Seele in ihre atomaren Bestandteile aber das Ende jeglichen Empfindens bedeutet. Tugenden generell (auch die auf Vertrag beruhende Gerechtigkeit) sind damit keine Werte in sich selbst, sondern bloß ein Mittel, den ungestörten Seelenfrieden zu garantieren. Von der Freundschaft konze­diert Epikur indes, daß sie über den Nutzen der Sicherheit hinaus um ihrer selbst willen geschätzt werde. - Indem Epikur das menschliche Ideal eines ungestörten Genießens auch auf die Götter überträgt, hält er es für ihrer unwürdig, sich um das Lenken der Welt zu sorgen und zu mühen oder gar Menschen zu strafen.

 

 

 

Kap. 2:  Die Stoa

 

A. Die stoische Logik

 

            Das Erkennen wurde von den Stoikern weitgehend rezeptiv verstanden als ein Erleiden. Auch die Zustimmung (nI¥FO#CªnÇÑ) ist kein wahrhaft spontanes Moment, da eine kataleptische Vorstellung, in der wir einen Gegenstand erfassen, ein Merkmal seiner Wahrheit, das uns zur Zustimmung nötigt, in sich selbst trägt. - In der Semantik nahmen sie zwischen dem Zeichen (n¼HÉIÎI) und dem bezeichneten Gegenstand (OŒ¥r#IÎI) noch die Zeichenbedeutungen (n¼HÇIíHªIÎI) an. Das konkrete (hörbare) sprachliche Verlautbaren (G±ÌÇÑ) bezeichnet nicht unmittelbar den materiellen Gegen­stand, sondern nur mittelbar über das von ihm Gemeinte oder Gesagte (GªFOíI). Unter den vollständigen Lekta (d.h. den Bedeutungen jeweils eines ganzen Satzes) sind vor allem die Aussagen logisch bedeutsam. Hier entwickelten die Stoiker gegenüber der aristotelischen Syllogistik, bei der es (als einer Prädikatenlogik) auf die allgemeinen Termini (Prädikate) und ihre Umfangsverhältnisse ankommt, die (nach heutiger Sicht) fun­da­mentalere Aussagenlogik. Sie läßt die Elementaraussagen (einfache Lekta) unanaly­siert und untersucht Aussageverknüpfungen (zusammengesetze Lekta), namentlich Kon­junk­tionen (‘und’, f), Disjunktionen (‘oder’, v) und Implikationen (‘wenn-dann’, É), deren Wahrheitswert allein eine Funktion der verknüpften Teilaussagen ist. Die gültigen Schlüsse (LªMIOÇFÎd) wurden von den Stoikern als komplexe Aussagen (Lekta) aufge­faßt, die immer wahr sind und sich auf fünf ursprüngliche oder aus sich heraus evidente Syllogismen reduzieren lassen. Unter diesen haben die Stoiker zwei wichtige Schlußre­geln entdeckt, den modus ponens: ((p É q) Ù p) É q und den modus tollens ((p É q) Ù ¬ q) É ¬ p, der es erlaubt, eine Hypothese zu verwerfen, wenn ihre (empirischen) Konse­quen­zen nicht eintreten.

 

 

 

 

B. Physik, Determinismus und pantheistische Theologie

 

            Gegenüber den Epikureern, die das gesamte Weltgeschehen aus den mechanisch be­­schreibbaren Bewegungsvorgängen der Atome (Materie) im leeren Raum erklärten, glaub­­ten die Stoiker eher wieder mit Aristoteles, der aus sich heraus passiven, be­stimmungs­­losen Materie ein aktives, gestaltendes Prinzip entgegenstellen zu müssen. Mit ‘Natur’ (qÔnÇÑ) betonten sie, daß es ein den Lebendigen immanentes Bewegungs­prinzip ist, das ihre Entwicklungen zielgerichtet steuert. ‘Logos’ bezeichnet, daß eine pan­the­istisch begriffene Weltvernunft alle Veränderungen in dem (als ein riesiger Orga­nismus ver­stan­denen) Kosmos hervorbringt und inhaltlich bestimmt. ‘Technisches Feuer’ hebt den Aspekt des kunstvollen Gestaltens hervor. In ‘Feuer’ wie in ‘(Lebens)hauch’ (LIªôH) zeigt sich, daß die Stoiker das geistige, formale, gestaltende Prinzip nicht so scharf wie Aristoteles von seinem materiellen Träger schieden, sondern es sogar, um sei­ne Wirksamkeit in der materiellen Welt zu gewährleisten, mit einer feinen Materie gleich­setzten, die alles durchdringen und durchwalten kann. Freilich verstanden sie diese Mate­rie nicht wie Epikur in mechanistischen, sondern eher vitalistischen Kate­gorien. - Die imma­nente kosmische Vernunft betrachteten sie unter den Gesichtspunkten: vernünf­ti­ge Vorsehung, Schicksal, Zeus. Da sie die Existenz Gottes durch den consensus gen­tium, die naturgegebene Intuition aller Völker von Gott, bewiesen sahen, nahmen sie die alle­go­risch verstandene Volksreligion (Zeus) sehr ernst. - Da sie die Natur teleologisch be­griffen (und zwar anthropozentrisch im Sinne einer äußeren Zweckdienlichkeit für den Men­schen), nahmen sie eine ordnende Weltvernunft an, die alles unverbrüchlich kausal de­ter­miniert: Schicksalsnotwendigkeit (ªDHÑH±I¼). Diese sei aber kein blindes Geschick, vielmehr ermögliche der lückenlose Kausalzusammenhang erst die vernünftige Erklärung der Welt (‘fatum’ von ‘fari’ = ‘sprechen’). - Der eher praktische Gesichts­punkt einer planenden Fürsorge (LMíIÎÇ, providentia), daß es Gott am Besten der Men­schen gelegen ist, wirft die Theodizeefrage auf, inwiefern das (pantheistisch begriffe­ne) Weltall vernünftig und wohlgeordnet ist.

 

 

C. Die Tugendautonomie der stoischen Ethik

 

            Die Stoiker hielten eine deterministische Physik für vereinbar mit einer Ethik, die Freiheit und Verantwortung voraussetzt. Die in einem unverbrüchlichen Kausalzu­sammenhang stehenden äußeren Ursachen (Außenweltreize) geben nur den unmittelbaren Anstoß. Es liegt beim Menschen und seiner Charakterbeschaffenheit, wie er daraufhin handelt. Bei seiner Charakterdisposition kann ein Mensch im Moment zwar nicht anders handeln, als er es tatsächlich tut. Aber er hat die Möglichkeit, diese Charakterveranla­gung auf lange Sicht hin zu beeinflussen. Denn die irrationalen Regungen entspringen für die Stoiker keinem von der Vernunft unabhängigen Seelenteil, sondern sind eine durch Erkenntnisfortschritt zu überwindende Fehlleistung der Vernunft. Wie diese langfristige Formung der Seele freilich vom Kausalzusammenhang ausgenommen sein soll, vermögen die Stoiker nicht plausibel zu begründen. - Die stoische Ethik scheint in ihrer Forderung, gemäß der Natur zu leben, zunächst naturalistisch das sittliche Sollen aus einer vorgege­benen Naturordnung (Sein) ableiten zu wollen. So geht sie denn auch von dem allen Le­benden natürlichen Streben nach Selbsterhaltung, d.h. nach dem ihm Eigenen, Zuträgli­chen, Förderlichen aus. Die daraus erwachsenden Werte sind aber sittlich indifferent. Eine naturgemäße Handlung erfüllt so nur ein bloßes unerreichbares Ideal. Die Ethik der alten Stoa in ihrem radikalen Entweder - Oder wäre damit praktisch irrelevant, da faktisch alle Menschen Toren und elend bleiben und das utopische Ideal des glücklichen Weisen ihnen nichts nützt. Für den Fortschreitenden der jüngeren Stoa kann ein unerreich­bares Ideal hingegen Ziel und Orientierung sein.

 

 

Kap. 3: Die antike Skepsis

 

A. Gleichgewichtigkeit entgegengesetzter Erscheinungen, Urteilsenthaltung und

     Ataraxie

 

Das gemeinsame Ziel der ganzen griechischen Philosophie seit der ethischen Wende durch Sokrates ist das (meist als Glückseligkeit bezeichnete) gelungene Leben. Die Beson­­der­heit aller hellenistischen Schulen ist die Auffassung: Notwendige Bedingung, aber auch hinreichender Garant dieser Eudaimonie ist der ungestörte Seelenfrieden (!OMÌd), daß man bei allen äußeren Verwirrungen einer Umbruchszeit seelisch uner­schütterlich bleibt. Dieser Rückzug auf die Innerlichkeit nimmt bei den Stoikern die extre­­me Form an, daß das Bewußtsein der eigenen Tugend oder die Übereinstimmung mit der Weltvernunft eine hinreichende Garantie der Glückseligkeit sei. Gegen solche The­o­­ri­en der stoischen Dogmatiker wandten sich die pyrrhonischen Skeptiker. ‘Dog­ma­ti­ker’ meint hier jemanden, der eine feste Lehrmeinung vertritt, auch bis in die letzten Konsequenzen hinein, die in eklatantem Widerspruch zur erfahrbaren Wirklichkeit stehen können. Eine solche unrealistische Voraussetzung ist die stoische Auffassung: Allein kraft einer willentlichen Entscheidung kann  der Mensch die stets gefährdeten äuße­ren Güter als wertneutral und damit für die Glückseligkeit nicht maßgeblich erklären. In einer viel realistischeren Psychologie glaubten hingegen die pyrrhonischen Skeptiker: Da der Mensch die Wertungen, die sich ihm durch natürliche sinnliche Regungen gleichsam aufzwingen, nicht unterdrücken, sondern nur in maßvolle Affekte verwandeln kann, richtet er seine Versuche, zur Ataraxie zu gelangen, vernünftigerweise auf die Güter und Übel, die durch bewußte Wertsetzungen dazu geworden sind. Wer sie als von Natur aus gut oder schlecht bewertet, der legt sich kraft des in einem solchen Werturteil enthalte­nen normativen Anspruchs darauf fest, intensiv nach ihnen zu streben oder sie zu meiden. Das aber beeinträchtigt durch Empfindungen wie Verdruß über Nichtbesitz, übermäßige Freude über Erwerb, Angst vor Verlust den Seelenfrieden. Zu diesem gelangen wir, wenn wir die vermeintlichen Güter und Übel explizit als wertneutral erkennen. Da dies uns wohl kaum gelingen wird, beschritten die Skeptiker den anderen Weg, daß wir Wertungen und dadurch entstehende Verwirrungen unterbinden sollen, indem wir uns unse­re Unfähigkeit klarmachen, den wahren Wert eines Gegenstandes oder seine wahr­hafte Beziehung zu Glück und Unglück zu erkennen. Demgemäß versuchten die Skepti­ker in vier Stufen die Glückseligkeit zu erklimmen. Allein die erste Stufe stellt eine bewußte Aktivität dar, die gegensätzlichen Bewußtseinsphänomene, sowohl das sinnlich Er­scheinende wie das Gedachte, gegeneinander auszuspielen. Ganz im Sinne des späte­ren Phänomenalismus nahmen die Skeptiker an, daß ich mir dieser unmittelbaren Bewußt­seinsphänomene zweifelsfrei gewiß sein kann; sie sind eindeutig; sie scheinen sich nicht genauso auch in entgegengesetzter Weise zu verhalten (das Warme auch kalt zu sein usw.). Sowie ich aber versuche, aus diesen subjektiven Erfahrungen objektive oder für jeden gleich verbindliche Urteile über Gegenstände der Außenwelt zu gewinnen, stellt sich als zweite Stufe selbst die Erfahrung der Gleichgewichtigkeit (çnÎnC±IªÇ) ein, daß gegensätzliche Eindrücke (Erscheinungen) und konträre Argumente uns gleich verläßlich erscheinen, genau die gleiche Überzeugungskraft haben. Dies aber bedeutet Urteilsent­hal­tung («LÎr¿) (3. Stufe). ‘«LÎr¿’ meint hier indes nicht wie bei Stoikern und Akade­mi­kern das aktive Innehalten, den bewußten Verzicht auf ein mir mögliches Urteil, son­dern eher den passiven Zustand der Urteilslosigkeit: Aus dem geistigen Schwebezu­stand (!MMªsd) heraus, daß die Waage des Geistes bei der Gleichgewichtig­keit der sinnlichen Eindrücke und rationalen Gründe nicht ausschlägt, ist erst gar kein Urteil möglich. Indem diese Urteilslosigkeit vor falschem Engagement bewahrt, führt sie zu un­ge­störtem Seelen­­­frieden (4. Stufe). - Fraglich ist, ob die erkenntnistheoretische Skepsis von vorn­herein als Mittel eingesetzt wurde und das Scheitern der Wahrheitsfrage geradezu als Programm entwickelt wurde, um über die Ataraxie zur Glückseligkeit zu gelangen. Selbst wenn die durch Ataraxie gewährleistete Glückseligkeit als Ziel feststeht, ist keines­wegs gesagt, daß eine durchgängige Isosthenie das geeignete Mittel dazu ist. Es scheint viel natürlicher (wie Sextus es auch selbst darstellt), daß der Mensch die Ver­wirrung durch den Widerstreit der Erscheinungen dadurch zu überwinden versucht, daß er Ordnung in diese ‘Anomalie’ bringt und Wahres von Falschem scheidet. Dieses Unter­fangen erweist sich angesichts sachlich unentscheidbarer Isosthenien als nicht durch­führ­bar. Daher hält der Skeptiker (bewußt) inne, nicht im Urteilen, das aus dieser Situation heraus gar nicht möglich ist, sondern elementarer im Suchen nach Entscheidung und Wahrheit. Als ein zufälliges ganz unerwartetes Resultat dieses Innehaltens stellt sich Ata­raxie ein, freilich in ganz anderer Form als erwartet, nicht indem er den Wirrwarr der Erscheinungen klärt, sondern indem er durch Unentschiedenheit die verwirrenden Emo­tio­nen vermeidet, die ein angespanntes Streben unweigerlich begleiten. Eine erkennt­nis­theo­retische Skepsis, die dem ethischen Ziel dienen soll, Wertungen zu unter­binden, muß dennoch eine universale Skepsis sein und darf sich nicht auf Werte beschrän­ken. Denn nur bei der naturalistischen und kognitivistischen Auffassung, daß sich in wertenden und vorschreibenden Urteilen genauso wie in deskriptiven Urteilen objektive Erkenntnisse der (metaphysischen) Natur artikulieren, ist die Strategie wirksam aufzuweisen, daß solche Er­kenntnisse der Natur dem Menschen verschlossen sind. Artikulieren sich in Wertur­tei­len nur subjektive Empfindungen (Emotivismus), dann liegen eher unwillkürliche Wer­tun­gen aus nicht-rationalen Affekten vor, die sich nach den Pyrrhoneern nicht durch rati­o­nale Überlegungen unterbinden lassen. Wenn durch eine erkenntnistheoretische Skepsis ein ethisches Ziel: Glück, indem man sich der Wertungen enthält und dadurch Seelen­frie­den findet, erreicht werden soll, dann muß die angegriffene Position ein ethi­scher Natu­ra­lis­mus und Kognitivismus sein: Nur wenn sich in Werturteilen eine objek­ti­ve, wahre oder falsche Erkenntnis artikuliert, die sich auf die (metaphysische) Natur der Din­­ge bezieht, ist eine skeptische Kritik treffend, die allgemein jede Form einer objekti­ven Erkenntnis bestreitet. Artikulieren Werturteile dagegen bloß subjektive Empfindun­gen (Emoti­vis­mus), so stellen sie die nur beschränkt beeinflußbaren irrationalen Wertungen dar.

 

 

B. Scheitert die Skepsis als momentane individuelle Erfahrung an der Notwendig-

     keit allgemeiner Grundsätze?

 

            Eine prinzipielle Skepsis, die einen Dogmatismus mit umgekehrten Vorzeichen ver­ficht, scheitert an dem förmlichen Widerspruch, daß sie die These, es gebe kein begrün­detes, wahres Urteil, selbst für eine solche wahre Aussage hält. Daher vertreten die pyrrhonischen Skeptiker denn auch nicht die Auffassung, jeder Versuch einer objektiven Erkenntnis müsse prinzipiell scheitern, weil sich zu jeder These eine gleich gut begründete Gegenthese formulieren lasse. Vielmehr fassen sie es nur als eine den einzel­nen Denker und den gegenwärtigen Zustand betreffende Erfahrung auf, daß ihnen zu jeder Meinung, die sie zu etablieren versuchen, die Gegenmeinung ebenso gut begründet zu sein scheint. Wenn eine solche Position scheitert, dann offenbar nicht an einem expli­ziten, förmlichen, sondern einem pragmatischen Selbstwiderspruch, daß die Skeptiker in ihrer argumentativen oder sonstigen Praxis etwas voraussetzen, was ihren Grundsätzen widerstreitet. Indem sie nicht dogmatisch eine prinzipielle Unerkennbarkeit behaupten, wollen sie offenbar einen inneren Widerspruch vermeiden, erkennen damit aber zumin­dest das Nichtwiderspruchsprinzip als wahr an. Dem können die Pyrhoneer dadurch aus­zu­weichen versuchen, daß sie den Widerspruchssatz gleichfalls nicht als allgemein­gültiges logisches Prinzip behandeln, sonder nur  als ‘Phänomen’, d.h. etwas, wovon nur dem einzelnen scheint, er müsse es seinen Operationen zugrundelegen, das sich aber durch­aus als verzichtbar erweisen könnte. Diese Position ist zwar formal unanfechtbar, erweist sich aber angesichts der wirklichen Verhältnisse als äußerst unglaubwürdig, da es in keiner Weise absehbar ist, wie wir jemals ohne das Prinzip einem etwas mitteilen können, daß wir das Behauptete nicht zugleich und im selben Sinne wieder aufheben dürfen. - Ferner ist implausibel, weshalb er nicht nach einer Erkenntnis der Wahrheit strebt, sofern er diese für möglich hält. Denn ein Skeptiker kann dies ja nicht durch die Ein­sicht rechtfertigen, daß Erkenntnis der Wahrheit für das Ziel des Glücks unerheblich oder sogar abträglich ist. Und für den Pyrrhoneer begründet die Erfahrung, daß seine Wahrheitssuche bisher stets gescheitert ist, keine größere Wahrscheinlichkeit, daß sie künftig gleichfalls fehlschlägt, als daß sie künftig gelingt. Auch dies legitimiert folglich nicht, von der Wahrheitssuche abzusehen, ein Verhalten, das sich auch nicht als durch gesellschaftliche Konventionen und Bräuche nahegelegt erklären läßt. Die pyrrhonischen Skeptiker können damit nur über ihr (rein passives) Erleben im Einzelfall berichten, müssen aber jede Verallgemeinerung ablehnen, da diese eine Einsicht in sachliche Zu­sammen­hänge oder die Natur der Dinge voraussetzt, die so ist, daß sie eine Entscheidung unmög­lich macht. Auch wenn eine solche Position konsistent ist, macht sie offenbar lebens­unfähig, da die Skeptiker gezwungen sind, jeden Fall von Grund auf neu zu behan­deln, und ihnen ein wesentliches Moment menschlicher Denkökonomie verschlossen ist, daß sie aus vergangenen Erfahrungen für künftige Fälle lernen können. Streng genommen dürften sie nicht einmal im Sinne plausibler Gebrauchsgrundsätze verall­ge­meinern. Dies aber tun sie in ihren Merksprüchen (qtId) und vor allem in den Tropen.

            Die zehn Tropen des Ainesidemos versuchen durch Verweis auf die Verschie­den­heit der erkennenden Subjekte, der Organe, Zustände, Medien, Standpunkte des Wahr­neh­mens sowie der Gewohnheiten erklärbar zu machen, inwiefern dasselbe zu ganz wider­streitenden Bewußtseinsphänomenen führen kann. Damit erweisen sie aber noch nicht, daß ein derartiger Widerstreit unentscheidbar ist. Ainesidemos betont zwar zu recht, daß uns ein neutraler Zustand außerhalb der widerstreitenden Erscheinungen unmöglich ist, von dem aus wir mit absoluter Gewißheit verläßliche von trügerischen Erscheinungen zu unterscheiden vermögen. Sehr wohl aber ist uns durch einen imma­nenten Vergleich (etwa der inneren Kohärenz) ein relatives Urteil möglich, daß die Erscheinungen im Wachzustand verläßlicher sind als die im Schlaf. - Die fünf Tropen Agrippas versuchen in einer systematischen Argumentation die Unentscheidbarkeit des Widerstreits aufzuweisen. Hierbei entsprechen sie dem Münchhausentrilemma des kriti­schen Rationalismus (Hans Albert), wenn man von den fünf Tropen den Widerstreit als Ausgangspunkt, die Relativität aber als Ergebnis betrachtet: Wenn alle Versuche, die Sache selbst absolut zu erfassen, in einem unentscheidbaren Widerstreit enden, so kann man stets nur relativ auf die besonderen Bedingungen eines bestimmten Subjekts von ihr reden. Daß die Pyrrhoneer diese sachlich vorhandene Systematik als mit ihrem Ansatz unver­­einbar durch die Reihenfolge der Tropen zu verhehlen suchen, macht ihr Unter­fangen suspekt. Ausgangspunkt des Trilemmas ist z.B., daß Sinneswahrnehmung und ratio­nales Denken uns widersprechende Zeugnisse liefern und daher der Überprüfung und Bestätigung bedürfen. Rechtfertigt man Sinneswahrnehmungen durch andere, ent­sprechend die Vernunfteinsichten, so kommt es zu einem unendlichen Regreß; recht­fertigt man beide durcheinander, so bedeutet dies einen Zirkel. Vermeiden läßt sich das nur durch eine dritte Form von Argumentationsfehler, daß man willkürlich eine unbewie­sene Voraussetzung macht. Auch wenn diese Argumentationen zeigen, daß es keine auf zweifelsfreiem Fundament letztbegründeten Wahrheiten gibt, so schließen sie keineswegs aus, daß etwas sich im Sinne größerer Plausibilität entscheiden läßt. Eine Disjunktion zweier Tropen zeigt, daß unausweichlich der Widerstreit unentscheidbar ist. Da es zu einem Widerstreit kommt, kann keines evident und aus sich heraus erfaßbar sein; versucht man aber etwas aus anderem zu erfassen, ohne es auf etwas aus sich heraus Evi­den­tes zurückführen zu können, gerät man in dieses Trilemma. Eine weitere Liste von acht Tropen wendet sich gegen Kausalerklärungen. Wenn der Skeptiker jegliche Er­kennt­­nis allgemeiner Zusammenhänge ausschließt, bereits bei logischen Gesetzen, dann erst recht bei realen Verursachungszusammenhängen, die es gestatten, zutreffende Prog­nosen aufzustellen. - Wenn sie gegen eine stoische These (es gibt ein Wahrheits­kriterium, Vorsehung durchwaltet die Welt) eine Gegenargumentation führen, so wollen sie nicht diese These definitiv umstürzen und in einem negativen Dogmatismus das Gegen­teil begründen. Vielmehr setzen sie die Behauptung als hinreichend durch Beweis und allge­meine Anerkennung etabliert voraus, wollen lediglich eine weniger beachtete gegenteilige Denk­möglichkeit als ebenso gut begründbar zu bedenken geben und so eine Iso­sthenie schaffen. Um der Konsistenz willen kann der Skeptiker nicht beanspruchen, ein (Gegen)­argument vorzutragen. (Denn dazu müßte er die zugrundeliegenden logi­schen Prinzipien anerkennen.) Vielmehr berichte er nur über ein inneres Erlebnis, daß ihm zu jeder Mei­nung eine genauso überzeugende Gegenmeinung erscheine. Isosthenien sind hiernach also nichts mit Vorbedacht Herbeigeführtes, sondern wider Willen Erfahrenes. (Eine bewußt herbeigeführte Gleichgewichtigkeit müßte von ihnen als förderlich für die Glück­selig­keit erkannt werden. Kann eine solche Unentschiedenheit aber nicht gerade beun­ru­hi­gen?) Auch wenn Mißtrauen gegen definitive Wahrheiten angesichts von Irrtümern natür­lich und naheliegend sind, so muß doch (wie es die skeptische Praxis zeigt) ein völliges argumentatives und phänomenales Gleichgewicht durch ausgeklügelte Argumen­tationen herbeigeführt werden. Auch wenn Agrippas Tropen eine letztgültige begründete Wahr­heit zweifelhaft machen, ist damit noch lange nicht ausgeschlossen, daß eines plausibler als das andere ist.

 

 

C. Ist es möglich, skeptisch ohne eigene Wertentscheidungen zu leben?

 

Die Gegner warfen den Skeptikern schon immer vor, ihre Lehre durch ihr Leben ad ab­sur­dum zu führen. Entweder vereitele die Skepsis jedes höhere Leben, das wesentlich in Streben und Meiden besteht, und führe zum Dahinvegetieren gleich den Pflanzen. Oder aber der Skeptiker widerspreche sich durch sein Tun, indem er sich in Extremsituationen wie jeder andere, der Überzeugungen habe, entscheide. - Sextus erwidert, daß die Skep­tiker ohne dogmatische Überzeugungen, indem sie auf die Phänomene achten, nach der lebensweltlichen Beobachtung leben. Dem Vorwurf, leben bestehe wesentlich im Tun, verlange somit eine Entscheidung für Erstreben oder Meiden, oder noch elementarer, überhaupt tätig zu sein, entgegnet er: Es ist unmöglich, gänzlich untätig zu sein. Aber auch wenn das äußere Resultat das gleiche sein mag, so sind hier zwei Fälle zu differen­zieren. Nur dann, wenn ich aus bewußter Entscheidung heraus ein Tun verweigere, liegt eine eigentliche Handlung vor. Wenn aus Unentschlossenheit heraus schlicht gar nichts zustandekommt, ist dies als ein Nichthandeln zu betrachten, das freilich auch zu verant­worten ist. Untätigsein ist also theoretisch möglich, wenngleich man so nicht lebensfähig ist. - Im Begriff der lebensweltlichen Beobachtung (¢ÇtOÇF¿ O¿M¼nÇÑ) artikuliert sich: Zum Zeitpunkt der skeptischen Erfahrung, daß alle Wertungen fragwürdig sind, steht der Mensch mitten im Lebensvollzug, der ebenso biologisch wie durch eine historisch, geo­graphisch, kulturell gewachsene Lebensform bedingt ist. Hier ist ein Leben ohne indivi­duelle Wertsetzungen und Entscheidungen möglich gemäß einer Art Analogie zum Träg­heitsgesetz: Ich brauche mich nicht zu entscheiden, sowohl wenn ich untätig bleiben, als auch wenn ich im gewohnheitsmäßigen Tun weitermachen will. Das Verhalten des Skep­tikers ist so determiniert: 1.) durch eine natürliche Ausstattung mit Vermögen und Dis­po­­si­ti­o­nen, 2.) durch den Zwang körperbedingter Triebe und Emotionen, 3.) daß er sich so verhält, wie man es auf Grund gesellschaftlicher Konventionen und Traditionen von ihm erwartet und 4.) daß er eingeübte Kunstfertigkeiten ausübt. - In dem von diesen vier lebensweltlichen Determinanten gesteckten Rahmen erwächst der konkrete Entschluß durch die Phänomene, wie die augenblickliche Situation sinnlich auf mich wirkt. Soll so stets eine eindeutige Handlungsentscheidung zustandekommen, so dürfen gegensätzlich Ansprüche niemals zu einem unentscheidbaren Konflikt führen. Nun kommt es aber häufig zu einem Wertekonflikt zwischen den gesellschaftlichen Verhaltensnormen, die eine Affektbeherrschung verlangen, und den Affekten, die als das Ursprüngliche, Natur­gegebene und daher möglichst uneingeschränkt zu Befriedigende erscheinen. Dieser Konflikt löst sich kaum ohne eigene Wertsetzungen von der Sache her. In pluralistischen Gesellschaften ist der einzelne in seiner unmittelbaren Lebenswelt mit konkurrierenden Wertvorstellungen konfrontiert. Diese Verhaltensmaßstäbe legen ferner nur auf einen bestimmten Typ des Handelns fest. Das konkrete Handeln unter den spezifischen Bedin­gungen des Einzelfalls kann sehr wohl Entscheidungen erforderlich machen. Um undog­ma­tisch zu sein, ist der Skeptiker gehalten, die zur Lebensfähigkeit erforderlichen Werte­ordnungen von anderen zu übernehmen. Die Skepsis ist damit eine nicht verallge­meinerungsfähige, parasitäre Position, die voraussetzt, daß es Nicht-Skeptiker gibt, die Werthierarchien aufstellen. Da der Skeptiker sich jeglichen eigenen kritischen Urteils begeben hat, muß er letztlich völlig passiv und außenbestimmt nach seiner biologischen Natur und dem Weltbild leben, in das er zufällig hineingeboren wurde. - Indem man alles gleichgültig werden läßt, erspart man sich sicher unnötige Sorgen. Aber zum Glück führt diese Haltung wohl nur, wenn niedere Güter zugunsten höherer gleichgültig werden. Es muß reichen, wenn ein solches höheres Glück, wengleich nicht unverlierbar, so doch eher autark ist als äußere Güter. Wer mit den Skeptikern alle Wertungen für gleichgültig erklärt, dürfte eher eine innere Leere bewirken als das Erfülltsein von Glück.

 

 

D. Die gemäßigte akademische Skepsis

 

Die akademischen Skeptiker schlossen zwar eine objektive Erkenntnis der Wahrheit aus, weil man nicht die Übereinstimmung der eigenen Vorstellungen mit den Vorstellungs­gegen­­­ständen festzustellen vermag. Sehr wohl aber vermögen wir subjektiv, durch Vergleich der Bedingungen, unter denen eine Vorstellung zustandegekommen ist, mehr oder weniger verläßliche Vorstellungen voneinander zu differenzieren. Wir können über die Wahrscheinlichkeit urteilen.

 

 

 

Kap. 4: Plotin und der Neuplatonismus

 

A. Geistesgeschichtliche Gründe der Wirksamkeit:

     die objektiv analysierende und die subjektiv-mystische Tendenz

            Der Neuplatonismus verdankt seine erstaunliche geistesgeschichtliche Wirksam­keit (von der christlichen Philosophie besonders der Kirchenväter über den Renaissance­humanismus bis hin zur Romantik und dem zeitlich wie geistig nahen Deutschen Idealis­mus) mehr noch als seinem Rang der Tatsache, daß er einem tiefen emotionalen Bedürf­nis vieler Menschen entspricht, die neben scharfsinniger analytischer Rationalität die myst­i­­sche Tendenz verspüren, sich zu vergöttlichen, d.h. durch alle Verfremdungen des All­tags hindurch zum wahren Selbst oder zum Göttlichen im eigenen Seelengrund vorzu­drin­gen und dieses mit seinem Ursprung in Gott zu vereinigen. Insbesondere entsprach der Neuplatonismus zwei charakteristischen Tendenzen seiner Zeit, dem Streben nach per­sönlicher Erfüllung (1) und der synkretistischen Neigung (2). Zu (1): Obgleich sich Plo­tin als getreuer Ausleger Platons fühlte, der die Quintessenz der bisherigen, zumal der Pla­tonischen Philosophie explizit aussprach, hat er Platon um die öffentliche Dimension, d.h. das Bemühen, die Politik nach philosophischen Entwürfen zu gestalten, verkürzt. Plo­tin hat den schon im Hellenismus einsetzenden Rückzug auf das Private (die eigene Glückseligkeit) zu dem mystischen Absehen von allem Äußeren verschärft. Zu (2): Der Syn­kretismus im weiten Sinne, daß verschiedene Glaubensrichtungen und philosophische Welt­bilder vermischt werden, hängt mit diesem Rückzug auf das Private zusammen. Wenn es keine verbindlichen öffentlichen Normen gibt, wählt der einzelne aus den welt­an­­schaulichen Angeboten, zumal denen, die ihm individuelle Erlösung verheißen, das aus, von dem er sich die meiste persönliche Erfüllung verspricht. Schon bei Plotin läßt sich ein In­ter­esse für fernöstliche Philosophie feststellen, der er, auch wenn keine tatsächlichen Ein­­flüsse bestanden haben sollten, zumindest geistig nahestand. Plotin hat Anregungen aus vielen Richtungen der griechischen Philosophie aufgegriffen, neben platonischen und ari­­stotelischen auch stoische (Lehre vom Logos als einer die Welt lenkenden Vorse­hung), hat sie aber sehr originell durchdrungen und umgeformt im Sinne seiner Lehrers Ammo­nios Sakkas. Da dieser nicht bloß nichts geschrieben hat, sondern auch seinen Schü­lern im Sinne mystischer Geheimlehren die Pflicht auferlegt hat, über seine eigent­lichen Auffassungen zu schweigen, ist nicht entscheidbar, wie weit bereits er die neupla­to­nischen Grundgedanken gehabt hat. Bei dem subjektiven, religiös-mystischen, wie bei dem objektiven, philosophischen, genauer metaphysisch-kosmologischen Zugang strebt Plo­tin nach dem Einen als dem allumfassenden, alle abgrenzenden Gegensätze überstei­genden Prinzip. Objektiv-ontologisch analysiert Plotin in der Begrifflichkeit der griechi­schen Philosophie die Seinsschichten (Hypostasen) und fragt in der Tradition der Kos­mo­­­logien nach der obersten Ursache alles Erfahrbaren, versucht von dem beobachtbaren Vie­len zum Einen aufzusteigen, ohne das es kein Seiendes, keine Vielheit geben könnte. Ge­mäß einem mystischen Erkenntnisgrundsatz wird Ähnliches von Ähnlichem erkannt. Um das göttliche Eine erfassen zu können, muß die Seele ihm daher ähnlich sein. Daher ist es letztlich nur ein anderer Aspekt desselben, daß der Mensch das Göttliche im eige­nen Inneren findet. Dies verleiht dem Neuplatonismus einen eigenartigen Doppelcha­rak­ter. Er ist unbestreitbar eine Philosophie von großer gedanklicher Schärfe und analyti­scher Kraft. Sofern Philosophie jedoch von jedem nachzuvollziehende und über­prüfbare Ar­gumentationen vorzutragen hat, sind die Aussagen, die eine urpersönliche und daher nicht eigentlich mittelbare mystische Erfahrung voraussetzen, keine Philoso­phie. Kernbe­griff von Plotins Metaphysik ist daher nicht, wie in Aristoteles’ Metaphysik, der die er­fahr­bare Wirklichkeit nüchtern und rational nach den allgemeinsten Merkmalen analy­siert, das Seiende, sondern das Gute und Schöne, Begriffe also, die auch eine exi­sten­tielle Erfüllung verheißen.

 

 

 

B. Aufgliederung des geistigen Bereichs

 

            Ein Grundzug neuplatonischer Metaphysik ist, Hierarchien geistiger Entitäten zu entwickeln und dabei Dreigliederungen zu bevorzugen, die wie der Ternar: Sein, Leben, Denken die christlichen Trinitätsspekulationen angeregt haben und bis zu Hegels dialek­­tischem Dreischritt fortgewirkt haben. Während Platon der sensiblen Welt insgesamt die Ideen als den intelligiblen Bereich gegenüberstellt, kennt Plotin rein geistige Hypostasen: Eines, Geist (Ideen), Seele. In einem Hervorgehen aus dem Einen, in dem die Einheit immer mehr zugunsten einer Vielheit schwindet, geht zuerst aus dem Einen der Geist (IÎôÑ) hervor, der sich selbst denkt und dabei als seine Bewußtseinsinhalte alle denk­baren intelligiblen Gehalte denkt, so daß er mit dem Reich der Ideen oder des Intelli­gib­len (FínHÎÑ IμOíÑ) gleichgesetzt werden kann. Vielfältiger sind die Einzelseelen und noch mannigfaltiger die materiellen Einzeldinge als das zuletzt aus dem Einen Hervor­ge­gan­gene. Obgleich auch Geist und Seele bereits aus dem Einen hervorgegangen sind, wertet Plotin sie doch als Hypostasen, d.h. als Grundlegendes oder selbständig Bestehen­des im Gegensatz zum Materiellen als abgeleitet Seiendem. Indem Platon das Höchste als Idee des Guten betrachtet, kennt er nicht wie Plotin ein über den Ideen stehendes Prinzip. Im Sonnengleichnis finden sich bei ihm freilich auch bereits die Ansätze der für den Neu­pla­tonismus so charakteristischen negativen Theologie: Die höchste Ursache hat nicht die Bestimmungen des Verursachten; die Idee des Guten als Ursache des Seins steht selbst über dem Sein («L±FªÇI OÃÑ ÎnÇÑ). In diesem Sinne suchten die Neu­platoniker nach einer Ursache, die nicht mehr wie die von ihr verursachten Ideen einen bestimmten, unter­scheidenden Inhalt hat, sondern als das Eine alle Gegensätze im unge­schiedenen Einen in sich befaßt. Plotins Nachfolger, zumal Jamblichos und Proklos, verstärkten nach die Tendenz, den Bereich des Geistigen in immer feinere Hierarchien aufzugliedern. So postulierten sie neben den denkbaren Gegenständen auch vielfältige denkende und rein geistige Wesen, so daß christliche Neuplatoniker (ab Pseudo-Dionysios Areopagita) ganze Engelhierarchien annahmen.

 

 

C. Die Emanationen aus dem Einen

 

            Die einzelnen Seinsschichten Plotins lassen sich in aufsteigender oder in abstei­gen­­der Reihenfolge darstellen. Der Aufstieg ist die Ordnung des Erkennens, das die erfah­rene Vielfalt auf das Eine als Prinzip zurückführt. Für einen solchen Aufstieg kann Plotin sich auf Platons Symposion stützen. Im körperlich Schönen erfahren wir eine posi­tive Bestimmtheit und insofern eine Fülle, aber zugleich einen Mangel. Dies ruft in uns einen Eros oder ein philosophisches Streben wach, zur Idee der Schönheit zu gelangen, zu dem, was wahrhaft schön ist. Während dieser Denkweg beim Einen - Guten endet, hört der Abstieg oder der Hervorgang des weniger Vollkommenen aus dem Prinzip als der ontologische Weg nicht bei der Materie als der untersten Stufe auf, sondern ist durch eine Rückwendung zum Ursprung konterkariert. Diese gegenläufigen Tendenzen herr­schen nicht bloß im Ganzen, sondern sind für jedes einzelne Seiende konstitutiv, das ständig aus dem Einen hervorgehen muß und erst in seiner Hinwendung zu ihm sein eigentliches Sein findet. Aus dem Charakter des Einen als überströmender Fülle, als Wirkkraft, die es drängt sich zu entfalten, ergibt sich, daß es etwas aus sich hervorgehen läßt. Das Hervorgebrachte muß aber weniger vollkommen sein als sein Ursprung. Es kann weder von gleicher Art und Vollkommenheit sein, weil es sich so nicht unter­schiede, noch vollkommener, weil eine Wirkung jede positive Bestimmung aus seinem Prinzip bezieht. Während der christliche Schöpfergott die materielle Welt unmittelbar erschaffen hat, geht die Körperwelt aus dem Einen - Guten nur in einem sukzessiven Prozeß hervor, in dem die Einheit immer mehr abnimmt und die Vielheit wächst. Bereits der zuerst hervorgegange Geist ist nicht mehr völlig eines, weil er mit dem Kosmos der von ihm gedachten Ideen identisch ist, die voneinander verschiedene intelligible Gehalte darstellen. Dennoch besitzt er eine höhere Einheit als die Seele (nächste Hypostase). Ihr diskursives Denken durchläuft nacheinander verschiedene Denkinhalte und setzt sie zusammen. Der Geist hingegen erfaßt im einzelnen in einer intuitiven Gesamtschau auf einmal das Gesamte, so wie nach Platons Lehre von der Einheit der Tugenden in der ein­zel­nen Tugend die Gesamtheit der Tugenden greifbar wird. Die Seele vermittelt zwischen Geist und Körperwelt: An sich ein geistiges Vermögen fungiert die Einzelseele als Ein­heitsprinzip (Natur) der vielen Körperteile. Unterhalb des Körpers, der (wenngleich als Abbild) eine Form (Idee) und damit eine einheitliche Struktur aufweist, kommt die Materie, die als das völlig amorphe Substrat der Körper gänzlich zerstreut ist. Plotin schwankt, ob er die Materie als die letzte der aus dem Einen hervorgehenden immer viel­fältigeren Formen betrachten soll, oder als Gegenwirklichkeit und Wurzel des Bösen. - Bei Metaphern wie der Emanation müssen unangemessene Konnotationen aus dem sen­sib­len Bereich ferngehalten werden. Da das aus dem Einen Ausfließende geistiger Natur ist, wird es durch dieses Ausströmen nicht wie eine körperliche Masse vermindert. Das Sich-nicht-Verströmen verdeutlicht Plotin an einer anderen Metapher: das Eine als Licht­quelle oder Sonne, die für die antike Kosmologie unveränderlich ist. Daran verdeutlicht er des weiteren das stufenweise Hervorgehen. Etwas braucht nicht zwingend von der Licht­quelle, sondern kann von einem Beleuchteten angestrahlt werden. Ferner zeigen die natürlichen Bilder (Schatten, Spiegelungen), die mit dem Licht zwangsläufig gegeben sind: Mit dem Einen - Guten sind auch Geist, Seele, Welt notwendig, wenngleich in einer abgeleiteten Notwendigkeit.

 

 

D. Das Eine

 

            Wer eine Letztbegründung zu geben versucht, kann sich nicht mit einer imma­nen­ten, derselben Seinsstufe wie das Verursachte angehörenden Ursache zufriedengeben, sondern muß eine transzendente Ursache suchen. Das Höchste von der bisherigen Philo­so­phie Angenommene: die Ideen (Platon) und der sich selbst denkende göttliche Geist (Aristoteles) werden von Plotin gleichgesetzt. Da der göttliche Geist wegen der viel­fäl­tigen Denkinhalte (Ideen) somit die Vielfalt der zu begründenden Sinneswelt nicht völlig transzendiert, muß er auf das vollkommen Eine oder schlechthin Einfache als letzte Ursache zurückgeführt werden. Das Eine muß daher die Bestimmungen des Geistes, das wahr­haft Erkennende zu sein, und die Bestimmungen der Ideen, das wahrhaft Seiende und wahrhaft Erkennbare zu sein, transzendieren. Erkennbar ist etwas nur in prädikativen Bestimmungen, die einen wohldefinierten, d.h. von anderen abgegrenzten Gehalt haben müssen. Dies widerstreitet dem Einen als dem Allumfassenden. Positive Aussagen können wir nur über die Rolle des Einen als allumfassendes Prinzip machen, weil diese Aus­sagen eigentlich über die Beziehung des Abhängigen zum Einen sprechen. Vom Einen selbst dürfen wir hingegen nur in Negationen sprechen. Diese dürfen freilich nicht im Sinne von „Omnis negatio est determinatio“ im Sinne der komplementären Bestim­mung mißverstanden werden: Wenn vom göttlichen Einen als transzendenter Ursache von Denken die verursachte Bestimmung zu negieren ist, so ist es vernunftlos. Im über­ragenden und mit seiner unbedingten Einfachheit vereinbaren Sinne können die Neupla­to­niker dem Einen doch positive Bestimmungen wie überragendes Denken zusprechen. - So wie der Kreismittelpunkt als unausgedehnt zwar keine geometrische Figur ist, aber als universaler Bezugspunkt, auf den jeder Teil der Kreislinie bezogen sein muß, überall in dem so konstituierten Kreis gegenwärtig ist, wird das als solches unerfaßbare Eine darin greifbar, daß der gesamte Kosmos darauf als auf seinen Ursprung bezogen ist; ähnlich wie das Gute als unbewußtes Ziel allem menschlichen Trachten zugrundeliegt.

 

 

E. Geist und Seele

 

            Plotin begreift wie Aristoteles das vollkommene Erkennen als ein Sich-selber-Denken, wohl weil das Subjekt sich nur über einen in seinem Inneren gegebenen Denk­gegenstand unbedingt gewiß sein kann. Der Geist ist aktiv-schöpferisches Prinzip, auch insofern er in den Ideen die Urbilder zum Gestalten aller Dinge in sich trägt. Das verleiht ihm eine größere Einheit gegenüber der Seele als dem passiv-rezeptiven Vermögen. Diese nimmt die verschiedenen Formen (Ideen) getrennt in sich auf, während sie im Geist als Ursprung in ungeschiedener Einheit sind, so wie jeder Satz einer Wissenschaft die Gesamtheit der Wissenschaft einschließt, von der allein aus er verstehbar ist. Die Ein­heits­­metaphysik des Platonismus schließt damit einen Holismus ein: Beim eigentlichen intu­i­tiven Erkennen ist jede Idee eine besondere Weise, ein Modus des Gesamten. - Die Seele als Einzel- ebenso wie als Weltseele hat eine Mittlerrolle zwischen sensibler und geistiger Welt. Auch wenn sie nicht wie die Körperdinge in viele Teile auflösbar ist, weist sie doch in ihrem Bezug auf die Sinneswelt eine Vielheit (etwa von Vermögen) auf. Sie gibt die Einheit, die sie vom Geist als ihrem Ursprung empfangen hat, an die Körperdinge weiter, etwa indem sie diese gemäß den im Geist geschauten einheitlichen Ideen gestal­tet. Aus der Zwischenstellung erwächst die ethische Aufgabe, sich schon während ihres Erdenlebens aus der Verstrickung an das Körperliche und Sinnliche zu lösen und wieder mit dem Guten als ihrem Ursprung zu vereinigen.

 

 

F. Materie und Körperwelt

    und die Rückkehr des Menschen aus ihr zu seinem Ursprung

 

            Plotin sieht die Körperwelt zwiespältig. Einerseits weist sie als Abbild der geisti­gen Welt, aus der sie hervorgegangen ist und zu der sie hinführt, Einheit, vernünftige Gestaltung, Harmonie und Ordnung auf, zwar mangelhaft, aber so, daß sie als Abbild nicht vollkommener sein könnte. Zerstreutheit, blinde materielle Notwendigkeit, Wider­streit entgegengesetzter Kräfte und Chaos verweisen dagegen auf die Materie, der als bloßem Substrat oder nackter Grundlage der Körperwelt sämtliche Bestimmungen fehlen, die etwas zu einem sensiblen Körper machen. (Wahrnehmbar ist immer nur etwas Bestimm­tes.) Neben der aristotelischen Substratsicht findet sich auch die gnostische Sicht der Materie als Wurzel alles Bösen. Obgleich Plotin sich als Interpret des genuin Platonischen gegenüber der Gnosis begreift, ist er doch einer dualistischen Zweiprinzipi­enlehre bedenklich nahe: Sowohl das Eine als Prinzip der geistigen Welt wie die Materie als Grundlage des Körperlichen sind aus sich heraus völlig unbestimmt und haben keine der Bestimmungen, die aus ihnen hervorgehen oder denen sie zugrundeliegen. Nur wenn man das Formende, Bestimmungsgebende als eigentlich wirklich betrachtet, kann man ihm die zu formende Materie gegenüberstellen, ohne dualistisch ein Gegenprinzip anzu­setzen. - Einen Dualismus vermeidet Plotin folglich da, wo er nicht mit dem Begriff eines absolut Einfachen, sondern der platonisch-aristotelischen Konzeption der Form arbeitet. Indem er das Schöne in I 6 als voll entfaltete Form bestimmt, wenn der Stoff vollständig von der Form geprägt ist, braucht er das Häßliche nicht als eine Art Gegenform zu be­stimmen, sondern als ein Zurückbleiben, wenn etwas die ihm mögliche und gebührende Form nicht erreicht. Form meint hier nicht bloß ästhetisch die sichtbare Gestalt, sondern auch ontologisch das bestimmende Prinzip. Deshalb kann Plotin Seiendes und Schönes als konvertible Transzendentalien behandeln: Der ontologische Rang eines Seienden ent­spricht der ästhetischen Qualität als Schönes. Weil der Seinsrang somit einen Wert dar­stellt, ist etwas in dem Maße, wie es seiend oder schön ist, auch erstrebenswert. Daher kann die ästhetische Erfahrung auch einen ontologischen Aufstieg anregen, daß sich der Mensch dem eigenen Inneren zuwendet. Denn wenn er die Form der Schönheit uneigent­lich über die Vielheit körperlicher Teile verstreut erblickt, bezieht er sie auf die in der See­le gedachte Form als Maßstab, die er anläßlich der Wahrnehmung erinnert. Weil ferner die Seele Form ist im Sinne eines ontologischen Prinzips, das den Menschen in seinem Menschsein begründet, wird die Seele sich anläßllich der wahrgenommenen voll aus­ge­prägten Form des Schönen zugleich ihrer eigenen Würde als Form bewußt. Diese Verinnerlichung ist der erste Schritt eines ontologischen Aufstiegs, der sich in drei Stufen vollzieht. Die erste Stufe der ethischen Läuterung führt von der Körperwelt zum eigenen Inneren. Denn da Ähnliches von Ähnlichem erkannt wird, findet der Mensch das Eine (den Ursprung) nicht im Äußeren, sondern in sich selbst, indem er sich ihm an­gleicht. Die Flucht ins eigene Innere heißt nicht, daß man die Welt äußerlich verläßt, sondern daß man sich innerlich von ihrem Ungeist entfernt durch Tugenden, die durchaus ein positives Gestalten der Welt einschließen (gegen die Gnostiker). Die zweite Stufe, die dianoetische Läuterung, führt von der Seele und ihrem diskursiven Hin- und Hererörtern zum intuiti­ven Erfassen des Geistes. Aber nicht durch Betrachtung (Theorie) wie bei Ari­sto­teles, sondern erst in der Ekstase, indem der Mensch aus sich heraustritt, gelangt er auf der dritten Stufe zu seinem Ziel, das Eine zu berühren.

 

 

 

Teil II:

Die christliche Philosophie in der ausgehenden Antike

 

Kap. 1: Aurelius Augustinus

 

A. Einheit von philosophischer Wahrheitsliebe und christlicher Gottsuche

 

            Bei Augustinus sind christlicher Glaube und philosophische Vernunft keine eigen­stän­­digen Größen, die nachträglich eine Ehe eingehen und deren Wechselbeziehungen prob­­lematisch bleiben. Philosophische Wahrheitssuche (Liebe zur Weisheit) und glaubende Gottsuche sind letztlich zwei Aspekte desselben, nämlich des Weges zu einem erfüll­ten, glücklichen Leben, das nur in der Erkenntnis der Wahrheit und damit Gottes liegen kann, der sich als Weg, Wahrheit und Leben geoffenbart hat. Wenn Augustinus sein Le­ben in den Confessiones exemplarisch als ein rastloses Streben nach Gott begreift, so ist auch auf den Irrwegen Gott als Ziel, auf das hin der Mensch erschaffen wurde, gegen­wärtig. Auch in den philosophischen Wahrheiten hat er unausdrücklich bereits Gott ge­sucht. Wahrheit ist für Augustin kein abstrakter logischer Begriff, hinter ihr steht viel­mehr ein personaler Gott, der in seiner Ewigkeit die zeitunabhängige, unwandelbare Gel­tung garantiert. Augustin hat sehr wohl in den Soliloquien gesehen: Auch vom Vergäng­li­chen, Veränderlichen als Inhalt (daß die Welt vergeht) kann es Wahrheit als eine un­ver­än­­derliche Geltung geben. Da etwas aber nicht ohne Wahrheit und damit ohne Gott wahr sein kann, kann es, so wie Gott als Quelle der Wahrheit aller Zeit enthoben ist, auch nur vom schlechthin Zeitlosen Wissen und Wahrheit im strengen Sinn geben. Daher fordert Au­gu­stin nicht bloß, das Wahre müsse ein und für allemal gelten (was auch bei zeitindizierten Erfahrungstatsachen möglich ist), sondern auch, es müsse sich auf zeitlose in­telli­gible Inhalte beziehen: die Ideen, die als Gottes Gedanken die unwandelbaren Ur­bil­der des zeitlichen Geschehens sind. - Wie verträgt sich mit der platonischen Beschrän­kung des eigentlich Wahrheitsfähigen auf das Unveränderliche die große Bedeutung, die das Geschichtliche, die eigene Lebensgeschichte (Confessiones) und die Menschheitsge­schichte (Gottesstaat) bei ihm hat? Augustin hat nicht bloß theoretisch Bedeutsames zum ge­schichtsorientierten Denken beigetragen. Sein eigenes Leben und Werk verkörpert das rast­lose Suchen, das erst jenseits des Lebens in Gott Ruhe findet. Daher läßt sich aus Augu­stins Schriften kein kohärentes System der Theologie oder Philosophie konstruie­ren. Sie sind vielmehr aus der jeweiligen Lebenssituation heraus zu verstehen. Die Früh­schrif­ten wollen z.B. zeigen, daß ein wohlverstandener Glaube durchaus den Maßstäben der an­ti­ken Denker an Vernünftigkeit genügt. Spätschriften, die einem kirchenpoliti­schen Kampf gegen Häretiker erwachsen sind, legen mehr Wert auf wirkungsvoll zugespitzte For­mulierungen der Position als auf ausgewogene Differenzierungen. Das geschichtliche Den­­ken ist insofern mit dem Platonismus vereinbar, als Augustin die Geschichte teleolo­gisch und sub specie aeterni als Entfaltung ewiger Urbilder und Streben nach ewigen Wahr­­­heiten betrachtet. So kann Augustin den Glauben als Vorbedingung echten Wissens an­sehen. Eine Wißbegier, die wahllos nach beliebigen Informationen giert (zumal über em­­pi­rische Fakten), ist für Augustin nur eitle Neugier (supervacanea curiositas), die von zen­­tralen Wahrheiten ablenkt. Wesentliches, existentiell bedeutsames Wissen, sich etwa sei­ner Lage als Mensch bewußt zu werden, verlangt die Rückkehr zu sich selbst, um im ei­genen Inneren das Göttliche oder gleichbedeutend die Wahrheit zu finden. Optimistisch glaubt der frühe Augustin noch an die Möglichkeit einer Selbsttranszendenz, daß der Mensch das Niedere, dem wandelbar Sinnlichen Verfallene aus eigenen Kräften durch sein besseres Selbst, die vernünftige Seele, zu transzendieren vermöge. Ziel ist freilich nicht das Ich, sondern Gott, der im Sinne der Illuminationstheorie das Erleuchtende oder die Quelle aller Erkenntnis ist - Augustin hat in einer Zeit politischen wie geistigen Um­bruchs die festen Fundamente einer christlichen Philosophie des Mittelalters geschaffen.

 

 

B. Stadien der geistigen Entwicklung Augustins

 

            An den lateinischen Klassikern, zumal (als Lehrer der Rhetorik) an Cicero geschult, wurde der junge Augustinus von einem Studium der Bibel dadurch abgeschreckt, daß er in ihr das gesuchte intellektuelle Niveau, zumal den sprachlich-rhe­torischen Rang Ciceros, vermißte. Auch webb Ciceros Hortensius, eine protrep­tische Schrift, in ihm die Weisheitsliebe erweckte, vermochte sie ihn doch nur ästhetisch zu befriedigen, er vermißte in ihr substantielle Antworten auf sein drängendes Suchen oder (wie er aus später Perspektive sagte) Christus. Die Manichäer schienen ihn formal wie inhaltlich befriedigen zu können, indem sie ihre synkretisch-gnostische Lehre (Selbsterlö­sung durch höhere Erkenntnis) als das bessere Christentum präsentierten. Seinen inneren Widerstreit fand er hier dualistisch als einen kosmischen Kampf eines lichten, guten und eines finsteren, materiellen Prinzips dargestellt. Weil die Manichäer aber seine Bedenken darüber nicht zu zerstreuen vermochten u.a. darüber, daß sie Gott und Seele aus einer subtilen, lichten Materie bestehen ließen, fiel er in eine Haltung des Skeptizismus oder ästhetischen Nihilismus zurück, wie er sie aus Cicero kannte, der den Mangel an substan­tiellen inhaltlichen Entscheidungen durch eine glälnzende rhetorische Form auszugleichen versuchte. Die Durchgangsstadien Manichäismus und Skeptizismus hinterließen bei Au­gustinus aber ihre Spuren. Auch nach Überwindung des Dualismus hat das Körperliche für ihn keinen Eigenwert, sondern soll überwunden werden und zum Geistigen hinführen. Der Möglichkeit, objektive Wahrheiten zu erkennen, versuchte er sich lebenslang da­durch zu vergewissern, daß er skeptische Einwände argumentativ widerlegte und dabei Des­car­tes’ berühmtes Argument vorwegnahm: Auch wenn ich mich täusche, so kann ich mich darüber nicht täuschen, daß der mentale Akte des Sichtäuschens stattfindet und daß ich somit als das Subjekt des Sichtäuschens existiere. Daher habe ich zumindest in diesem einen Punkt sicheres Wissen und weiß auch reflexiv darum. Angesichts der Einheit von fides und ratio ist es folgerichtig, daß Augustinus sich ineins dem christlichen Glauben und der neuplatonischen Philosophie zuwandte. Schon Ambrosius, dessen formal glänzende Predigten Augustin beeindruckten, deutete das Christentum neuplato­nisch, z.T. las er die Bibel allegorisch. Bis zum Hochmittelalter war man allgemein über­zeugt, der Platonismus sei die Philosophie, die dem Christentum am ehesten entspreche. Anders als bei den Manichäern konnte Augustin die drei Hypostasen (bei ihm: Gott, Ideen, Seele) nur rein geistig verstehen, und er brauchte das Schlechte nicht mehr dualistisch als Gegenprinzip aufzufassen, sondern konnte es als Seinsmangel (Aprivatio entis) interpretieren, daß etwas die seiner Art mögliche und gebührende Vollkommenheit  (Seinsfülle) nicht erreicht. - Dieser intellektuelle Durchbruch mußte sich - so war Augu­stinus überzeugt - in einer asketischen Lebensweise manifestieren. Augustin erfuhr hier einen Willenszwiespalt, daß neue Leben einerseits zu wollen, es aber wegen einer Willensschwäche doch nicht so entschieden intensiv zu wollen, wie er es sich eigentlich wünschte. (Durch Beachten solcher Willensphänomene bereitete Augustinus den Volun­tarismus vor.) Als Bischof mußte er sich vor allem mit Donatisten und Pelagianern auseinandersetzen. Die Donatisten verfochten - typisch für viele Sekten - das Ideal von einer besonders heiligen und reinen Kirche und verbanden dies mit schwärmerischen sozi­alrevolutionären Ideen. Der pelagianische Auffassung, jeder Mensch könne sich in seinem freien und nicht von der Erbschuld korrumpierten Willen von sich aus für das Gute entscheiden, stellt Augustin eine an Paulus orientierte Gnadentheologie entgegen: Der wegen der Erbsünde von sich aus des Guten unfähige Mensch wird allein durch Gottes freie Gnadenwahl gerechtfertigt.

 

 

C. Zeit als erlebte Zeit

 

            Augustins ausführliche Darstellung seiner geistigen Entwicklung in den Confessi­ones will nicht die biographische Neugier mit empirischen Fakten über sein Leben befrie­digen, sondern stellt exemplarisch die conditio humana dar. Sie ist zugleich Schuld­bekenntnis, da jeder Mensch angesichts der absoluten Maß­stäbe Gottes schuldig wird, und Lobpreis für Gottes Gnadenerweise im Leben. Im Sinne des christlichen Individualis­mus ist das Leben des Einzelmenschen als eines Einzelnen vor Gott wertvoll, ist nach spe­zifischen Begriffen zu betrachten und ist nicht bloß wie für die griechische Antike Ex­emplifikation eines allgemeinen Musters. - Die objektive physikalische Zeit, die an beob­achtbaren Bewegungsabläufen festgemacht wird, und diese in frühere und spätere Phasen zu gliedern und zu messen gestattet (Aristoteles), ist für Augustin problematisch. Das Vergangene als das nicht mehr Seiende und das Künftige als das noch nicht Seiende sind nicht wirklich. Die Gegenwart aber im strengen Sinne des Jetztpunktes ist als unausge­dehnt auch kein konstituierender Bestandteil einer zeitlichen Erstreckung, sondern grenzt Vergangenes und Künftiges gegeneinander ab. Auch bei der subjektiven, erlebten Zeit scheint das Jetzt ein Punkt des Umschlags, wo das (als künftig, noch ausstehend) Erwar­tete zum (als vergangen) Erinnerten wird. Hier gibt es aber drei gleichberechtigte menta­le Einstellungen zum Geschehen: Ich erinnere etwas als geschehen (memoria), ich erlebe etwas als sich gerade vollziehend (contuitus) und ich erwarte ein künftiges Geschehen (expectatio). Hier sind alle drei Zeitstufen gegenwärtig und damit real: Das Vergangene wird von der mentalen Fähigkeit des Repräsentierens dem Vergessen entrissen und wie­der gegenwärtig gemacht oder fortdauernd gegenwärtig gehalten (Retention). Indem ich mich auf das Künftige vorwärts richte (Protention), hole ich es vorwegnehmend in die Gegenwart hinein. Auch erfahre ich das augenblickliche Ereignis nicht punktuell (so könn­te ich nie einen Geschehensablauf erfahren oder mein Sprechen von Sätzen kontrol­lie­ren), sondern auf dem Hintergrund des erinnernd festgehaltenen Vergangenen und im Hinblick auf das erwartete Künftige. In der Tradition von Platon und Plotin muß Augu­stins Zeitbegriff in der Spannung von Ewigkeit und Zeit gesehen werden. Augustinus faßt wie Platon die Zeit als etwas Geschaffenes auf. Platon begreift die Zeit als ein zahlen­mäßig fortschreitendes (also kosmische Bewegungen messendes) Abbild der in einem verharrenden Ewigkeit. Damit kann die Ewigkeit (aeternitas) als das Urbild für die platonische Tradition nicht bloß eine unbegrenzte zeitliche Dauer (sempiternitas) sein. Da Ewigkeit keine Zeitlichkeit voraussetzen darf, muß sie vielmehr allem wandel und Nach­einander enthoben, die gesamte Seinsfülle (die Gesamtheit der Inhalte) auf einmal in un­veränderlicher, sich stets identisch bleibender Gegenwart umfassen (Boethius: totum simul praesens). Was im physischen Geschehensablauf eine zeitliche Sukzession verschie­dener Momente ist, die zueinander in einem Verursachungsverhältnis stehen, schaut Gott als eine gleichzeitige Gesamtheit zusammen, deren Momente sich inhaltlich bedingen. Dem sogleich wieder vergehenden zeitlichen Jetzt steht das verharrende Jetzt (nunc stans) der ewigen Gegenwart gegenüber (im höchsten Glück scheint die Zeit still zu stehen). Auch die Gegenwart ist nur im Bewußtsein wirklich präsent, sofern nur das blei­bend Gegenwärtige (Vorhandene) wirklich gegenwärtig ist, das Physische aber so­gleich vergeht. Daher bedarf es der repraesentatio, des Wiedervergegen­wärtigens von Vergan­genem oder allgemeiner des Sich-gegenwärtig-Machens (jeder Zeit­stufe), indem man sie sich geistig vorstellt. Die subjektiv erfahrene Zeit steht in einer Spannung von Zeitlich­keit und Ewigkeit. Als etwas sich Erstreckendes, Ausdehnendes, wie sie es in ihrem Begriff verlangt, ist die Zeit nur im Bewußtsein gegenwärtig und ist insofern distentio animi. So­fern das Bewußtsein durch drei verschieden gerichtete Einstellungen drei Zeitstufen, die im realen Geschehensablauf getrennt sind, in einem einzigen Augenblick zu vereinigen vermag, hat es bereits ein Moment der Ewigkeit.

 

 

D. Die Analyse des Geistes erhellt Gottes Existenz und Dreieinigkeit.

 

            Während Descartes zum Ziel hat, ein menschliches Erkennen in zweifelsfreier Ge­wißheit zu begründen, ist für Augustinus Gott das Ziel sowohl der theoretischen Erkennt­nisbemühungen wie des praktischen Glücksstrebens; die philosphische Bewußt­seinsanalyse ist nur Mittel. Da für Augustinus Gottes Existenz eigentlich stets gewiß war, geht es ihm nicht bloß um das nackte Daß, sondern vielmehr darum zu klären, was für ein Gott dies sei, an den wir glauben. Der Gottesbeweis in de libero arbitrio II bestimmt Gott als unwandelbare Wahrheit. Da unser Geist etwa bei den Zahlen eine zeitunabhängi­ge Geltung zu erfassen vermag, diese aber nicht in den schwankenden und unbeständi­gen subjektiven Denkakten begründet sein kann, verweist unsere Vernunft über sich selbst hinaus auf eine unwandelbare Wahrheit, die vergleichbar dem Licht jegliches Erkennen intelligibler Gegenstände erst möglich macht. Augustinus vergegenständlicht nicht ein­fach vorschnell die Wahrheit. Noch Frege und Husserl betoönen gegen den Psychologis­mus, daß sich die logische und mathematische Geltung nicht auf die subjektiven Gesetze des Denkens reduzieren läßt, sondern objektiv in etwas unabhängig Vorgegebenem fun­diert sein muß. - Besonders bei den Trinitätsspekulationen wird deutlich, daß Augustinus keine voraussetzungslose rein philosophische Gotteslehre betreiben will, sondern das Ge­glaubte rational auf seine Einsichtigkeit nach menschlichen Denkmaßstäben hin zu durch­leuchten versucht. Allein wenn man die göttliche Dreieinigkeit als Urbild zugrundelegt, vermag man überall in der Schöpfung, namentlich im Geist Dreierstrukturen zu ent­decken, die als Abbild oder Spuren auf die göttliche Trinität verweisen. Die verschiede­nen Ternare Augustins folgen alle dem Aufbau 1.) grundlegendes Vermögen, 2.) kogni­tives Vermögen des Erkennens, 3.) Vermögen des Wollens oder Liebens. Angesichts der Rückbezüglichkeit des Geistes sind diese verschiedenen Vermögen (trotz ihrer inhaltli­chen Eigenständigkeit als subsistierender Relationen) nur im Beziehungsgefüge das, was sie sind, und bilden insofern eine Einheit.

 

 

E. Erfahren und Wollen

 

            Trotz seiner Hinwendung zum subjektiv Erfahrenen geht es Augustinus um über­zeitliche, objektive Erkenntnis, deren subjektive Bedingungen er erforscht. Aus den flüch­tigen Augenblickseindrücken käme keine Erfahrungserkenntnis zustande, wäre das Gedächtnis nicht fähig, Spuren vergangener Eindrücke als Vorstellungsbilder (imagines) zurückzuhalten oder vorstellend Künftiges zu antizipieren. Allein so vermag ich das un­mittelbar Erlebte in einen Geschehensablauf einzuordnen und durch Vergleich von Gleich­artigem zu Erfahrungserkenntnis zu gelangen. - Schon Platon verstand in seiner !I#HI¼nÇÑ-Lehre das Erkennen intelligibler Gegenstände in einem Wechselspiel von Vergessen (kein aktuelles Wissen) und Erinnern (anläßlich von Sinnesdingen, die an Ideen zu messen sind). Augustinus mußte als Christ eine andere Erklärung suchen, da er keine Präexistenz der Seele annahm. Im De magistro glaubt er, Sprache könne nicht ur­sprünglich als Erkenntnisquelle Einsichten vermitteln, sondern setze ein unmittelba­res Vertrautsein mit den zu bezeichnenden Gegenständen voraus, durch Sinneswahrnehmung oder durch Christus als den inneren Lehrer. Augustinus begreift hier das Intelligible zu gegenständlich, als liege es immer schon vor und bedürfe nur der Erleuchtung (illumina­tio) durch die von Gott ausgehende Wahrheit, um für die geistige Sehkraft aktuell erkenn­bar zu werden. - Da das Seiende stets aus dem (Noch-)Nichtsein hervorgeht und ins Nicht-(mehr-)Sein zurücksinkt, bedarf es einer Erschaffung aus dem Nichts. Damit setzt sich Augustinus sowohl von Platon ab, nach dem Gott bloß eine chaotische Materie gestaltet hat, wie auch von Platons Emanationslehre. Wenn das Weltgeschehen aus einem notwendigen Prinzip notwendig hervorgegangen ist, so muß es selbst notwendig determiniert sein. Nur wenn Gott sich frei zur Schöpfung entschlossen hat, ist in ihr Kon­tingenz und Freiheit möglich. - Die Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium) des Willens ist für Augustinus zentral. Er geht von der Reflexivität des Willens aus, daß wir durch unseren Willen das Wollen selbst beeinflussen können. Lebenslang hat er die formale Fähigkeit des Willens nicht bestritten zu bestimmen, ob ein Willensakt stattfindet oder nicht. Da ein Wille nun aber wesentlich auf inhaltliche Ziele gerichtet ist, stellt sich die weitergehende Frage, ob er auch die Grundausrichtung des Willens selbst bestimmen kann. Dies ist nicht im Sinne eines blanken Voluntarismus zu verstehen, als könne der Wille ohne sachliche Vorgaben die eigenen Grundwerte setzen und einen Lebensentwurf wählen, der von außen nicht zu kritisieren ist. Vielmehr nimmt Augustinus im Sinne des Platonismus eine objektive Wertordnung an. Die Entscheidung des Willens bezieht sich folglich auf die Alternative, ob er in Gottesliebe (amor Dei) den Werten gegenüber die sachlich gegebene Einstellung einnehmen will, die Güter nach ihrem sachlichen Wert zu lieben, oder oöb er die Werteordnung in Eigenliebe (amor sui) pervertiert. Wer nur seinen persönlichen Vorteil in trügerischen vergänglichen Gütern sucht (auch im Stolz über eigene geistige Fähigkeiten), der versklavt sich der eigenen Begehrlichkeit (concu­pis­centia), die hier nie dauernd befriedigt werden kann, so daß immer neue Begierden entstehen. Eine endgültige Erfülllung findet der Mensch nur in der Gottesliebe: Genießen (frui) oder um seiner selbst willen schätzen kann man letztlich nur Gott, während die ver­gänglichen irdischen Güter nur als Mittel um der höheren Ziele willen zu gebrauchen (uti) sind. Damit vermag Augustinus die Wurzel des Bösen (ohne manichäistisch ein böses Prinzip anzunehmen) im freien Willen anzusetzen, der sich in seiner Ausrichtung verkehrt. Die Implikation der Umkehr, daß der Mensch von sich aus des Rechten fähig ist, bekämpft Augustinus später in seiner Auseinandersetzung mit dem Platonismus. Wohl um das Faktum zu erklären, daß sich bei den Menschen ein gewisser Hang zur Selbs­tliebe, ein Verfallensein an das Böse beobachten läßt, entwickelte er die Erbsünden­lehre. Die in Adam schuldig gewordenen Menschen sind nicht bloß faktisch schlecht, son­dern aus sich heraus eines guten Willens (bona voluntas), dem Anruf Gottes zu folgen, unfähig. In einer freien, unbegreiflichen Gnadenwahl erlöst Gott einige aus der großen Zahl der Verdammten.

 

 

F. Civitas Dei und civitas terrena: Augustins teleologische Geschichtsbetrachtung

 

            Durch Gottesliebe und Selbstliebe definiert Augustinus auch Gottesstaat (civitas Dei) und Weltstaat (civitas terrena). Beide sind eher archetypische Formen einer Gemein­schaft vernünftiger, freier Wesen, als daß sie mit konkreten, historischen Gemeinschaften (Kirche, Staat) gleichzusetzen wären. Sofern die konkreten, weltlichen Staaten formal be­­trachtet Zusammenschluß um eines gemeinsamen Zieles willen sind, der die Menschen befriedet und rechtlich ordnet, helfen sie die Selbstliebe zu überwinden, wenngleich das Ziel von seinem Inhalt her: materieller Nutzen weltlich egoistisch ist. - Indem Augustinus im christlichen Heilsgeschehen die Einmaligkeit, Unwiederholbar­keit der entscheidenden ge­schichtlichen Ereignisse sowie die Endgültigkeit des daraus Resultierenden sah, ersetz­te er die zyklische Geschichtsauffassung der heidnischen Antike durch eine teleologische, escha­tologische Sicht: Die Geschichte strebt auf ein Ziel zu, mit dem sie endet, das damit schon außerhalb der Geschichte liegt. Sie hat damit einen letzten, außerweltlichen Sinn.Auch die antiken Philosophen haben indes zugestanden, daß die Menschen zumin­dest individuell dem Ziel der Glückseligkeit zustreben. Die endgültige Erfüllung, die das wah­re Glück von seinem Begriff her fordert, aber wird unmöglich gemacht, wenn der Mensch im Kreislauf der Wiedergeburten zwangsläufig dazu ver­dammt ist, ins alte Elend zurück­zusinken. Auch Augustins Zeitbegriff hängt damit zusammen: Die subjektiv erleb­te Zeit ist linear, da das Bewußtsein intentional, gerichtet ist. Die objektive, physikalische Zeit wird demgegenüber an den Gestirnsumläufen und den durch sie bedingten Natur­kreis­läufen (Wechsel der Tages- und Jahreszeiten) gemessen.